Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
hörbar aus. „Von dem Abend an, an dem du das Lachen im Westflügel gehört hast.“
„Und du hast nichts gesagt?“, flüsterte ich voll Bitterkeit.
„Du hättest mir nicht geglaubt.“
„Das tue ich auch jetzt nicht“, erwiderte ich, stand auf und ging hinaus.
Deus ex machina
Ich wollte ihm nicht glauben. Dies wäre wohl ehrlicher gewesen. Ich lag fast drei Stunden wach und grübelte hin und her und konnte oder besser wollte mir einfach nicht eingestehen, dass er recht haben könnte. Irgendwann fiel ich dann doch in einen unruhigen Schlaf. Im Traum hörte ich das Lachen. Ich lief durch die vielen Gänge der Burg, und hinter jeder Ecke, hinter jeder Tür stieß ich auf Marlin, der sich in Staub auflöste, wenn ich auf ihn zusteuerte.
Völlig verschwitzt und atemlos wachte ich auf. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es halb sechs war.
Ich schlug die Bettdecke beiseite, stand auf und zog mich an.
Ich musste es einfach wissen.
Der frühe Morgen in den schottischen Highlands hat eine Klarheit an sich, als würde die Welt in jeder Nacht von allem Bösen reingewaschen werden. Der Himmel war leuchtend blau, keine Wolke war zu sehen, und die Vögel zwitscherten um die Wette. Die Blätter an den Bäumen waren dunkelgrün und feucht, und das Licht brach sich in den Tautropfen, so dass es aussah, als würden Brillanten in den Zweigen hängen.
Es roch würzig nach Erde und frischem Grün, und ich atmete den Duft tief ein. Mit jedem Schritt und jedem Atemzug wurde mir leichter ums Herz, und als ich endlich am Cottage ankam, war ich mir sicher, dass Ryan unrecht hatte.
Aus dem Schornstein kam kein Rauch, und im Haus war es still und dunkel. Anscheinend war Marlin nicht zu Hause. Ein Rundgang über den Hof zeigte, dass auch sein Landrover fort war. Ich ging zurück zur Vorderseite des Cottages, wanderte zum Steg und wieder zurück und blieb schließlich unschlüssig vor der Tür stehen. Ich wusste nicht genau, warum, aber ich drückte trotzdem die Türklinke herunter und war kaum überrascht, dass nicht abgeschlossen war.
Sollte ich hineingehen, fragte ich mich und hatte noch immer keine Antwort, als ich bereits im Wohnzimmer stand. „Was glaubst du eigentlich hier zu finden?“, murmelte ich und wanderte durch den Raum, zog wahllos Schubladen auf und betrachtete die gerahmten Bilder an den Wänden. In der Ecke stand ein kleiner Sekretär. Ich setzte mich auf den Stuhl davor und kaute auf meiner Unterlippe. Ich wusste, dass ich hier eigentlich nichts zu suchen hatte, und doch schob ich ein paar Geschäftsbriefe zur Seite und überflog die Zeilen. Nichts Ungewöhnliches. Nur Bestellungen, Rechnungen, Speditionsaufträge und ein alter Brief. Ein ziemlich alter Brief. Mir verschlug es den Atem. Meine Hände begannen zu zittern.
„Ich habe gerade an dich gedacht.“
Ich schoss herum, der Brief fiel zu Boden. Marlin stand in der Tür, mit Brot und frischen Eiern in den Händen und einem überraschten Lächeln im Gesicht, das sofort erlosch, als er den Brief entdeckte.
„Ich kann das erklären“, sagte er, legte Eier und Brot ab und hob abwehrend die Hände. „Bitte, Jo! Sieh mich nicht an, als wäre ich der Teufel in Personalunion!“
Ich nahm den Brief auf und erhob mich vom Stuhl. „Weiß Ryan davon?“
„Nein, er weiß nichts. Ich habe den Brief schon viele Jahre. Und eigentlich ist er auch ohne Bedeutung. Darin steht nur, dass seine Mutter unseren Vater bittet, ihren gemeinsamen Sohn aufzuziehen.“
„Und dass sie nicht so stark ist wie ihre berühmte Vorfahrin Annie Guthrie! Du hättest mir das sagen müssen!“
„Warum? Es ändert doch nichts. Ryan ist der Sohn eines Lords. Mein Bruder! Willst du ihm sagen, er stammt von einem lasterhaften Dienstmädchen ab? Und das, wo er so schon an seinem Dasein zu knabbern hat? Vielleicht hast du es noch nicht gemerkt, aber er leidet darunter, was ich damals gesagt habe. Ihm jetzt auch noch diesen Wisch vorzulegen wäre bösartig.“
„Annie? Lasterhaft? Marlin! Samuel ist sein Urururgroßvater!“
„Niemand kann das beweisen.“
Vor lauter Verwirrung schüttelte ich den Kopf in der Hoffnung, Klarheit zu erlangen, und endlich mir fiel ein, dass Marlin nicht wusste, dass Samuel und Annie geheiratet hatten.
„Setz dich hin!“, sagte ich, doch er rührte sich nicht.
„Setz dich hin, Marlin! Ich will dir nur was erzählen.“
„Verdammt!“, sagte Marlin aus tiefstem Herzen, nachdem ich ihm alles über Annie, ihre Briefe, ihre Liebe zu Samuel, die
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