Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
Nachtvogel ließ seinen Ruf erschallen. Es klang beinahe wie: Komm mit! Komm mit!
Ich war mitgegangen, dachte ich auf einmal. Und was hatte es mir eingebracht? „Nur Ärger!“, murmelte ich voller Sarkasmus und lächelte dann doch leise vor mich hin. Na ja, nicht nur, überlegte ich. Auch neue Freunde. Freunde, die mir in diesen paar Wochen sehr ans Herz gewachsen waren.
Mit einem leisen Schreck erkannte ich, dass ich mich, wenn wir hier auf Caitlin Castle alles zu Ende gebracht hatten, entscheiden musste. Meine Probezeit hier war abgelaufen. Ich dachte plötzlich an Professor Sutherland und seine Worte: Und wenn es Ihnen gefällt, reden wir danach noch einmal über mein Jobangebot.
Mittlerweile hatte ich erkannt, dass ein Ghosthunter nicht unbedingt mit einem Photonenstrahl bewaffnet sein musste und Egon oder Dr. Wenkman heißen sollte. Es war viel realer. Nicht die Gespenster, nein, die nicht, sondern die Geschichten, die sich um sie rankten – Annella’bán zum Beispiel. Dies war eine Legende. Die Seehundfrau gab es nicht, aber es gab Annie. Sie war real. Diese Überlegung führte mich zu Samuel. Ich war mir sicher, dass er dieses Gerät, an dem Finn sich nun ausprobierte, vor vielen, vielen Jahren erschaffen hatte, doch wozu? Einsamkeit, schlug mein Verstand mir vor, und ich hatte das Gefühl, er könnte damit recht haben. Einsamkeit – bis Annie ihn rettete.
Mutus permaneo …
Ich hatte schon lange nicht mehr an die Inschrift des Bogens gedacht, doch nun lichtete sich die Bedeutung.
Samuel.
Ich spürte einen kalten Luftzug hinter mir, als ob irgendwo eine Tür aufgegangen wäre. Ich erschauerte, eine Gänsehaut überzog meinen Nacken, und ich drehte mich langsam um.
„Samuel?“, flüsterte ich in die Nacht.
Und dann hallte Finns Stimme durch die Gänge. „Gegen Abend ist mit starken Schauern zu rechnen, die zum Morgen hin etwas nachlassen und am Nachmittag erneut eintreten.“
„Als ich sagte, du sollst dich bemerkbar machen, hatte ich nicht gemeint, dass du als Wetterfrosch agieren sollst“, sagte Ryan, kaum dass Finn zur Tür hereingekommen war und sich zu uns an den großen Tisch gesetzt hatte. Sein Tonfall ließ allerdings an Ernsthaftigkeit zu wünschen übrig. Finn grinste nur und stellte den Klangschreiber aus dem Regal vor sich ab. Daneben legte er zwei dieser Zylinder und setzte einen weiteren in den Klangschreiber ein. „Diese drei sind die einzigen, die eventuell noch etwas von sich geben könnten“, sagte er. „Der Rest der Zylinder ist teilweise so von der Zeit und der Feuchtigkeit da unten zerfressen und verbeult, dass nichts mehr zu machen war, aber die drei hier sollten mit etwas Glück noch funktionieren.“ Er beugte sich leicht über das Gerät und zog eine letzte Flügelschraube fest. „Drückt die Daumen!“ Er rieb sich die Hände und lächelte. „So! Und nun bitte alle ganz still.“
Dann setzte er das Gerät in Gang. Der Zylinder begann sich langsam zu drehen, und plötzlich ertönte ein leises Schnarren und dann etwas, was sich mit viel Phantasie als Worte ausmachen ließ.
„Was ist das?“, fragte Ailsa und rückte etwas näher.
Lucas runzelte die Stirn. „Shakespeare“, murmelte er leise.
„Wie bitte?“ Ich beugte mich über den Tisch.
„Du hast recht“, meinte Ryan. „Da liest jemand aus Hamlet vor.“
Ich kannte den Text aus Hamlet bei weitem nicht auswendig, aber die jambischen Pentameter erkannte ich am Rhythmus. Das war tatsächlich Shakespeare. „Wessen Stimme ist das?“, fragte ich.
„Ich vermute mal, dass es Samuel ist.“ Ryan zwinkerte mir fröhlich zu. Ein Lächeln überzog unwillkürlich meine Züge, als mir klarwurde, dass ich nach hundertfünfzig Jahren die Stimme hören konnte, die auch Annie damals gehört hatte. Die Stimme, die Annie ewige Liebe geschworen hatte … Okay, Jo! Jetzt geht deine Phantasie mit dir durch, dachte ich, aber der Gedanke gefiel mir trotzdem.
Auf dem zweiten Zylinder war außer einem leisen, melodischen Summen nichts weiter zu hören, und keiner von uns erkannte die Melodie. Als Finn schließlich den letzten eingespannt und in Schwingung gesetzt hatte, überkam mich ein Frösteln.
„Das ist es!“, flüsterte ich.
„Ja“, sagte Ryan fast ebenso leise, und der Rest am Tisch nickte nur stumm, denn aus dem kleinen, unscheinbaren Gerät kam heiseres Gelächter.
Finn durchbrach die gespenstische Stimmung im Raum mit einer einfachen Handbewegung, mit der er den Klangschreiber ausschaltete. „Täter
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