Ein Schuss Liebe kann nicht schaden
Ich kann mir Zahlen einfach nicht merken. Ich werde einfach nicht schlau daraus. Dieses Sprichwort habe ich auch noch nie verstanden. Wie kann einen eine Sache schlau machen?“
Mrs Erickson drehte sich zu Hope um und lächelte schüchtern. „Es ist wie bei dem Wort ‚herumschlagen‘ vor ein paar Tagen. Es kommt immer auf den Zusammenhang an, in dem das Wort steht. Man wird nicht schlau, wenn man sich eine Sache nur anschaut.“
Emmy-Lou kicherte. „Das wäre aber doch witzig.“
„Wenn man sagt, dass man aus einer Sache nicht schlau wird, dann heißt das, dass man sie nicht versteht. Egal, wie man sie betrachtet oder wie man es auch dreht und wendet, es macht einfach keinen Sinn.“ Mr Stauffer schien sich mittlerweile etwas beruhigt zu haben, denn seine Stimme klang schon viel freundlicher.
„Das stimmt für mich.“ Hope hielt einen Moment inne, als eine Vogelschar vor der Kutsche flüchtete. „Zwei Jahre in der Schule, dann haben mich alle einfach aufgegeben. Die Lehrerin hat gesagt, ich verstehe alles verkehrt herum und werfe alles durcheinander. Ich hab es eben nicht verstanden. Eine Waschschüssel ist immer eine Waschschüssel, aber die Buchstaben drehen sich manchmal um oder verlieren einen Strich oder tun ihn auf die andere Seite und sehen überhaupt nicht mehr so aus wie vorher.“
Emmy-Lou riss erstaunt die Augen auf. „Wollen Sie denn nicht lesen können?“
„Wir bekommen nicht immer, was wir wollen.“ Mr Stauffer spuckte die Worte aus, als wären sie Gift.
Emmy-Lou sah ihren Vater verwirrt und gekränkt an. Sofort versuchte Hope, Emmy-Lou zu trösten. Ihr Vater hatte sie ja nicht absichtlich verletzen wollen. „Das stimmt. Aber die Bibel sagt, dass Gott unser Vater ist und dass er uns immer gibt, was das Beste für uns ist. Ich kann nicht lesen, aber Gott hat mich hier zu eurem Haus gebracht, wo deine Tante mir immer vorlesen und mir der Pastor mehr über die Bibel erzählen kann. Ist es nicht gut, wie mein himmlischer Vater sich um mich kümmert?“
„Papa und Tante Annie kümmern sich um mich.“
„Das heißt dann wohl, dass wir beide uns auch mal um sie kümmern müssen. Was hältst du davon, Emmy-Lou, wenn wir heute Abend gebratenes Hühnchen für sie machen?“
„Lecker!“
Als sie auf der Farm ankamen, wollte Hope sofort von der Kutsche springen, hielt aber noch rechtzeitig inne, als sie den besorgten Blick von Phineas auf Mrs Erickson bemerkte. Dann hielt er Hope seine Hand hin. „Miss Ladley.“
Eine schwangere Frau sollte nicht allein von der Kutsche springen. Ich muss hier mit gutem Beispiel vorangehen. „Vielen Dank.“
Als Hope auf dem Boden stand, fing Emmy-Lou an zu kichern. „Phineas hat dir geholfen, weil er gebratenes Hühnchen liebt.“
„Ist das wahr?“ Hope streckte dem Mädchen die Arme entgegen, damit es springen konnte.
„Oh ja!“ Emmy-Lou sprang in ihre Arme und umklammerte sie stürmisch. „Ich mag gebratenes Hühnchen auch sehr gern.“ Ihre kleinen Beine waren um Hopes Hüften gewickelt. „Bekomme ich diesmal den Magen oder den Hals?“
„Frag deine Tante.“
„Tante Annie?“
„Was du willst.“ Annie blickte über den Garten hinweg zum Klohäuschen.
Hope drückte Emmy-Lou kurz an sich. „Du und ich, wir müssen jetzt unsere Sonntagskleider ausziehen. Ich freue mich schon auf den Krautsalat deiner Tante mit dem Hühnchen.“
Während Phineas die Kutsche in die Scheune brachte und Mrs Erickson das Klohäuschen aufsuchte, stieg Hope die Stufen zur hinteren Veranda hinauf. Emmy-Lou hing ihr immer noch um den Hals, deshalb öffnete Mr Stauffer die Tür für sie.
„Miss Hope, müssen Sie wirklich ihr Sonntagskleid ausziehen? Es ist so hübsch, und ich mag grün. Das andere Kleid ist hässlich.“
„Emmy-Lou!“ Auf Mr Stauffers Stirn erschien eine Zornesfalte und er nahm seine Tochter auf seine eigenen Arme. „Das war unhöflich.“
„Wir haben alle unsere Lieblingsfarben. Ich glaube, es gibt nicht viele Leute, die braun mögen. Gelb ist wahrscheinlich meine Lieblingsfarbe, weil sie so sonnig ist. Aber braun – das ist auch eine schöne Farbe. Ich wette, Emmy-Lou und mir fallen alle möglichen schönen Sachen ein, die braun sind, wenn wir uns umziehen. Erde ist braun, und es gibt nichts Besseres als gute, nasse Erde, um die Saat auszusäen. Jetzt bist du dran.“
Emmy-Lou schaute sich erst gar nicht um. Sie sah einfach ihren Papa voller Bewunderung an. „Papas Haare!“
* * *
Gut gebratenes Hühnchen. Der letzte Bissen
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