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Ein sicheres Haus

Titel: Ein sicheres Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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der Schwierigkeiten, als sie … Sie wissen schon, als sie krank wurde und fortging, war, daß ein paar von uns ihr gegenüber gewisse Schuldgefühle hatten. Wir dachten, wir hätten sie vielleicht nicht genug einbezogen. Ich meine, vielleicht bekam sie Anorexie, weil sie dazugehören wollte, verstehen Sie? Ich sah sie kurz, als sie aus Südamerika zurück war, und hätte sie fast nicht erkannt. Keiner von uns hätte das: Sie war so schlank und gebräunt und hatte all diese tollen neuen Kleider und wirkte soviel selbstsicherer, nicht mehr so ängstlich darauf bedacht, von uns akzeptiert zu werden. Wir hatten alle eine gewisse Scheu vor ihr, als wäre sie auf einmal eine Fremde. Sie war so anders als die dicke Finn, die einfach überall mitgetrottet war.«
    Ich versuchte, ihr etwas Spezifischeres zu entlocken. Sie strengte sich sichtlich an.
    »Vor ein paar Wochen hätte ich gesagt, sie war intelligent, nett. Solche Sachen. Und loyal«, fügte sie hinzu. »Ich hätte gesagt, Finn war loyal. Man konnte ihr vertrauen und sich auf sie verlassen. Sie machte immer ihre Hausaufgaben, kam pünktlich zu Verabredungen, sie war, nun ja, zuverlässig eben.
    Eifrig. Sie haben doch am Ende viel Zeit mit ihr verbracht.
    Verstehen Sie, was ich meine?«
    »Haben Sie irgendwelche Fotos?«
    Wir kramten in einer Schachtel mit Bildern, die hauptsächlich Jenny zeigten, die hübsche Jenny auf dem Pferd, am Meer, mit ihrer Familie, beim Cellospielen, beim Empfang des Schulpreises, sportlich auf Skiern einen Abhang hinunterfahrend. Keine Finn.
    »Sie könnten es in der Schule versuchen«, schlug sie vor. »Da muß es ein Schulfoto von ihr geben, und das Trimester ist dort noch nicht zu Ende. Die Schulsekretärin, Ruth Plomer, wird Ihnen helfen. Sie ist ein Schatz.«
    Warum war ich darauf nicht selbst gekommen?
    Ich fuhr also nach Grey Hall, das nicht grau war, sondern rot und prachtvoll und ehrfurchtgebietend weit von der Straße entfernt hinter hübschen grünen Rasenflächen lag. Auf einem Spielfeld konnte ich eine Horde Mädchen in grauen Shorts und weißen Hemden mit Lacrosse-Schlägern sehen, während eine großgewachsene Frau sie anbrüllte. Drinnen schlug mir der Geruch von Möbelwachs, grünem Gemüse, Leinöl und Weiblichkeit entgegen. Hinter geschlossenen Türen wurde Unterricht abgehalten. So hatte ich die Gesamtschule von Elmore Hill nicht in Erinnerung. Eine Frau in einem Overall wies mich einen Korridor entlang zum Büro der Sekretärin.
    Ruth Plomer saß, knopfäugig und spitznasig wie ein Vogel, in einem Nest aus Akten und Drahtkörben und Stapeln von Formularen. Sie hörte sich meine Bitte aufmerksam an und nickte dann.
    »Um ehrlich zu sein, Dr. Laschen, die Presse war hier und wollte Fotos, Kommentare, Interviews, und wir haben alle abgewiesen.« Sie schwieg eine Weile. Dann gab sie zögernd nach. »Sie wollen nur ein Foto sehen! Sie wollen es nicht mitnehmen? Und Sie wollen auch mit niemandem sprechen?«
    »Ganz recht. Ich möchte wissen, wie sie aussah, bevor sie bei mir wohnte.«
    Sie wirkte verwirrt, wußte offensichtlich nicht, was sie tun sollte, und gab schließlich nach.
    »Na ja, eigentlich spricht nichts dagegen. Es gibt keine Einzelfotos, aber wir haben immer Gruppenbilder. Wann war ihr Abschlußjahr?«
    »Ich glaube, offiziell ging sie im Sommer 95 ab, aber sie war fast während des ganzen Schuljahrs krank. Vielleicht können Sie mir das Foto vom Jahr davor zeigen.«
    »Warten Sie hier; ich werde sehen, was ich tun kann.«
    Sie verließ das Zimmer, und ich hörte Schritte, die sich entfernten und dann wieder näherten. Miss Plomer hatte ein großes, zusammengerolltes Foto in der Hand und breitete es auf ihrem überfüllten Schreibtisch aus. Ich beugte mich vor und suchte in den Reihen der Mädchengesichter nach dem von Finn.
    Miss Plomer setzte ihre Brille auf.
    »Das ist das Gruppenbild von 1994. Hier ist eine Liste mit den Namen der Mädchen. Schauen wir mal, ja, sie ist in der dritten Reihe von hinten. Da ist sie.« Ein sauber gefeilter Fingernagel wies auf eine Gestalt auf der linken Seite des Fotos. Dunkles Haar, die Gesichtszüge ein wenig unscharf; sie mußte den Kopf bewegt haben, als die Aufnahme gemacht wurde, genau wie bei mir. Ich nahm das Foto und hielt es ans Licht, starrte intensiv darauf, aber sie schien vor meinem Blick zurückzuweichen. Ich hätte nicht erkannt, daß das Finn war. Ich hätte niemanden erkannt.

    »Maggie? Hallo, hier ist noch mal Sam. Haben Sie es schon gefunden?«
    »Nein,

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