Ein sicheres Haus
Schnitt nach dem anderen. Ich konnte nicht glauben, daß er mir das angetan hatte. Ich wollte ihn finden, wo immer er war, um ihn zu fragen, ob ihm bewußt war, was er Elsie angetan hatte, die so sehr an ihm hing. War ihm klar, was er mir angetan hatte? Ich wollte ihn wiederhaben, verzweifelt wollte ich ihn wiederhaben, ich wollte ihn finden, um ihm zu sagen, wenn er zurückkäme, könnten wir alles in Ordnung bringen, würden wir alles regeln. Ich könnte wieder nach London ziehen, wir könnten heiraten, alles, nur, damit die Dinge wieder so wurden, wie sie gewesen waren.
Und Finn. Ich hätte gern ihr hübsches kleines Gesicht genommen und immer wieder hineingeschlagen. Nein. Darauf getreten. Es zerquetscht. Ich hatte sie in mein Haus gelassen, in die intimsten Ecken meines Lebens, hatte ihre Geheimnisse enthüllt, von denen kein anderer wußte, hatte ihr Elsie anvertraut. Ich war ihr näher gewesen als meiner eigenen Schwester. Dann erinnerte ich mich an die Details von Dr. Kales Autopsie ihrer Eltern und den Verband um ihren Hals, als ich sie zum erstenmal gesehen hatte, ängstlich und still auf meinem Sofa. Sie war zerbrechlich wie Porzellan gewesen. Ich hatte gesehen, wie sie sich wieder den Menschen öffnete – und das war der Dank dafür. Oder war das bloß ein weiteres Symptom?
War es der Hilfeschrei eines traurigen, einsamen Mädchens?
Und war Dannys Flucht nichts weiter als das charakteristische Verhalten eines schwachen Mannes? War es nicht genau das, was Männer tun, wenn ihnen die Aufmerksamkeit eines schönen jungen Mädchens entgegengebracht wurde? Tränen liefen mir über die Wangen. Sogar meine Ohren waren naß.
Nach einer Stunde Schluchzen tauchte ich hinab in die kühle Stille. Ich konnte meine Reaktionen objektiv betrachten, zumindest glaubte ich das. Ich spürte den Schmerz schichtweise.
Der Kern war der Verrat Finns, war die Tatsache, daß Danny Elsie und mich im Stich gelassen hatte. Ich fühlte mich wie verbrannt, als könne nie wieder etwas anderes wichtig sein, aber die Empfindung stumpfte ab, und ich dachte an andere Dinge.
Da war das Gefühl, beruflich versagt zu haben. Ich hatte immer wieder gesagt, Finn sei nicht meine Patientin, ich hatte mich dem ganzen dummen Arrangement widersetzt. Aber auch wenn man all das mit einbezog, war es eine totale Katastrophe. Das traumatisierte Opfer eines Mordanschlags war in meiner Obhut gewesen, und die Angelegenheit hatte nicht mit Heilung geendet, sondern mit einer entsetzlichen Farce. Das Opfer war mit meinem Liebhaber durchgebrannt. Ich fühlte mich stolz in dem Bewußtsein, jemand zu sein, der allein auf die Jagd geht und sich nicht darum kümmert, was andere Leute von ihm denken, aber unwillkürlich mußte ich das jetzt doch tun. Die Gesichter von beruflichen Rivalen und Feinden tauchten vor mir auf. Ich dachte an Chris Madison oben in Newcastle und Paul Mastronarde in London, die das amüsant finden und den Leuten erzählen würden, es sei natürlich schrecklich, aber offen gestanden geschähe es mir ganz recht, weil ich immer so arrogant sei. Ich dachte an Thelma, deren Idee es gewesen war, Finn aufzunehmen. Ich dachte an Baird, der mich von Anfang skeptisch betrachtet hatte, und die ganze Bande auf dem Polizeirevier. Sie alle hatten jetzt guten Grund zu lachen.
Und dann – o Gott – fielen mir meine Eltern ein und Bobbie.
Ich wußte nicht, was schlimmer war: die Mischung aus Schock, Scham und Mißbilligung, die ich als erste Reaktion erwartete, oder das Mitgefühl, das darauf folgte, die für Samantha, die verlorene, verlassene Tochter, ausgebreiteten Arme. Für einen kurzen Augenblick verspürte ich den unwiderstehlichen Drang, mich lieber wieder schlafen zu legen und nie mehr aufzuwachen, als mich der gräßlichen Wirklichkeit zu stellen, die das Tageslicht für mich bereithielt. Es würde so schrecklich und entnervend sein, daß ich nicht die Kraft hatte es durchzustehen.
Zu niedriger Blutzuckerspiegel, natürlich; der sich verlangsamende Stoffwechsel, typisch für den frühen Morgen.
Er wurde durch Aktivität und Nahrung wieder in Schwung gebracht. Jetzt schimmerte graues Licht durch die Vorhänge.
Elsie bewegte sich auf meinem Arm. Sie öffnete die Augen und setzte sich auf, als habe sie eine Spiralfeder im Körper. Mein Arm war eingeschlafen, und ich massierte ihn wie wild.
Prickelnd erwachte er wieder zum Leben. Verdammte Welt. Ich würde es überleben, und ich würde mich nicht darum kümmern, was irgend jemand dachte.
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