Ein skandaloeser Kuss
gestanden und sich voller Sehnsucht gefragt hatte, ob er sie küssen würde …
Aber solche Gedanken führten zu nichts, wie sie sich nicht zum ersten Mal klarmachte. Sie konzentrierte sich auf die Suche nach einem Buch, das sie wenn schon nicht zu ihrer Unterhaltung, so doch zu ihrer Bildung lesen konnte, denn bei den meisten Werken handelte es sich um Abhandlungen über Geschichte – griechische, römische, italienische, französische, englische – oder über Philosophie und Religion.
Als sie einmal an den Regalen entlanggegangen war und wieder bei der Tür ankam, hatte sie die Hoffnung, etwas zu finden, schon beinahe aufgegeben. Seufzend schloss sie die halb offen stehende Tür und ließ ihren Blick über die Bücherborde dahinter schweifen.
Im mittleren stand Graf Korlovskys Schloss von Diana Westover genau in Augenhöhe. Nell kannte das Buch vom Hörensagen, ebenso die Autorin, bei der es sich um die Gattin Viscount Adderleys handelte. Die Heirat der beiden hatte für eine kleine Sensation und viele Gerüchte gesorgt und Lady Sturmpole so in Atem gehalten, als wäre die junge Dame ihre Verwandte.
Nell nahm das Buch aus dem Regal und schlug es auf. Bald hatte sie sich festgelesen und beschloss, den Rest des Vormittags mit ihrer Lektüre zu verbringen, als ein anderer Buchrücken ihre Aufmerksamkeit erregte.
Das Spinnennetz.
So musste Lord Bromwell sich fühlen, wenn er eine neue Spinnenart entdeckte! Eifrig zog sie das Buch zwischen den anderen hervor, glücklich darüber, dass sein Vater doch ein Exemplar aufbewahrt hatte.
Nell setzte sich in einen der Sessel beim Fenster und begann zu lesen. Diana Westovers Roman würde sie sich für später aufheben, im Augenblick war sie zu neugierig auf Lord Bromwells Buch.
Wie sie es sich gedacht hatte, war Das Spinnennetz keine trockene wissenschaftliche Abhandlung über Spinnen oder die anderen Tier- und Pflanzengattungen, von denen er ebenfalls Exemplare mitgebracht hatte.
Trotz vieler gelehrter Begriffe las es sich spannend wie ein Roman voller Abenteuer und Gefahren, voller amüsanter Beobachtungen nicht nur fremder Kulturen und Gewohnheiten, sondern auch des Schiffsalltags. Mehrfach glaubte Nell die salzige Seeluft schnuppern zu können und der derben Sprache der Mannschaft zu lauschen.
Aber genauso anschaulich schilderte Lord Bromwell die weniger schönen Aspekte des Lebens an Bord – so anschaulich, dass sie brackiges Bilgewasser zu riechen meinte und den schimmeligen Schiffszwieback förmlich schmeckte, ebenso wie sie die vorbeihuschenden Ratten zu sehen glaubte und das Schnarchen der Matrosen hörte.
Es war nicht verwunderlich, dass der Viscount keine Ehefrau auf eine solche Reise mitnehmen wollte.
Erst recht nicht, wenn man die Gefahren berücksichtigte, die in der Ferne lauerten. Nicht nur Stürme, bei denen das Schiff unterging und Menschen zu Tode kamen, während die Überlebenden auf einem winzigen Eiland mitten im Ozean strandeten; auch die unberechenbaren Bewohner exotischer Gestade, bei denen man nicht sicher sein konnte, ob sie Fremde willkommen hießen oder in den Kochtopf warfen. Lord Bromwell und die Schiffsmannschaft hatten nie sicher sein können, was sie erwartete, wenn sie irgendwo an Land gingen.
Jedoch berichtete er auch von Erfahrungen mit den Eingeborenen, die ausgesprochen erfreulicher Natur gewesen sein mussten. Von ihren Speisen, ihrem Umgang miteinander, den Tätowierungszeremonien und den Tänzen, und Nell erkannte, dass es sich bei dem sinnlichen Tanz, den er am Teichufer aufgeführt hatte, um einen upa upa handeln musste. Was weitergehende, intimere Betätigungen zwischen der eingeborenen Bevölkerung und den fremden Besuchern anging, kam Lord Bromwell nur sehr diskret darauf zu sprechen und wählte seine Worte sehr sorgsam. Aber sie konnte zwischen den Zeilen lesen und war sicher, dass er sich nicht von den Frauen ferngehalten hatte.
Und er hatte nicht nur mit ihnen getanzt.
Doch zwei Dinge durchzogen den Reisebericht wie ein roter Faden – Lord Bromwells leidenschaftliches Interesse an seinem Forschungsgegenstand und seine Bescheidenheit. Hätte er nicht längst bewiesen, wie begabt und intelligent und bewunderungswürdig er war, spätestens jetzt, nachdem sie sein Buch gelesen hatte, wäre es ihr klar gewesen.
Jemand räusperte sich vernehmlich.
Nell schrak zusammen und blickte auf, halb in der Erwartung, Lord Bromwell zu sehen, als könne die Lektüre seines Buchs ihn den ganzen Weg von London hierher
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