Ein skandaloeser Kuss
beschwören wie ein Zauberspruch.
Es war nicht der Viscount, sondern sein Vater, der in der offenen Tür stand – in Positur wie gewöhnlich. Die Brust geschwellt, die Hände hinter dem Rücken, wippte er auf den Absätzen vor und zurück und musterte sie ernst.
„Ich habe Sie gesucht, Lady Eleanor“, verkündete er. „Es gibt da etwas, das ich gern mit Ihnen besprechen würde.“
Für einen entsetzlichen Moment dachte sie, er habe herausgefunden, dass sie nicht die war, die sie vorgab zu sein, doch dann ging ihr auf, dass er in dem Fall viel zorniger gewesen und direkt zur Sache gekommen wäre.
Nein, es musste sich um etwas anderes handeln. Nell unterdrückte ein Seufzen und wappnete sich gegen weitere Ausführungen über Springbrunnen, Wasserpumpen und die Schwierigkeiten beim Transport von italienischem Marmor.
Stattdessen, und das erwies sich als noch schwerer auszuhalten, sagte der Earl erst einmal gar nichts.
Sie rutschte unbehaglich in ihrem Sessel hin und her, doch er gab keinen Ton von sich.
„Sicher wissen Sie, dass mein Sohn der einzige lebende Nachkomme ist, den meine Frau und ich haben“, begann er schließlich.
„Ich nahm es an, da er nie von Geschwistern sprach.“
„Was bedeutet“, fuhr der Earl fort, „dass er eines Tages den Titel erbt. Einen sehr alten, ehrwürdigen Titel.“
Nell neigte schweigend den Kopf.
„Er wird ein sehr wohlhabender Mann sein. Dieses Anwesen, ein paar kleinere Güter und das Stadthaus in London werden ihm gehören, dazu ein ansehnliches Vermögen. Er könnte der Frau, die er heiratet, jeden erdenklichen Luxus bieten.“
„Sie bekäme auch Ihren Sohn“, rief Nell ihm in Erinnerung. „Keine geringfügige Dreingabe, wie ich finde.“
Der Earl runzelte die Stirn. „Vorausgesetzt, sie würde es schaffen, ihn dazu zu bewegen, in England zu bleiben, statt sich in der Welt herumzutreiben und Ungeziefer zu sammeln!“ Er begann auf und ab zu marschieren.
Nell wusste nichts darauf zu antworten, also schwieg sie.
„Er hätte es zu etwas bringen können“, fuhr Lord Granshire fort. „Zum Staatsmann, selbst zum Premierminister. Er war der gescheiteste Junge an der ganzen Schule, darin herrschte Einigkeit unter seinen Lehrern. Stattdessen vergeudet er Zeit und Talent mit Ungeziefer! Seine Mitschüler haben ihm sogar den Spitznamen Buggy verpasst. Stellen Sie sich das vor, mein Sohn, der zukünftige Earl of Granshire, Viscount Bromwell wird Buggy genannt – Wanze ! Es ist zum Haareraufen!“
„Aber inzwischen müssen Sie doch stolz auf ihn sein“, protestierte Nell, bestürzt von seiner ablehnenden Haltung und seiner Vehemenz.
„Wie kann ich stolz auf einen Sohn sein, der Ungeziefer erforscht? Der mit Wilden tanzt? Der sich weigert, seine Pflicht zu tun, zu heiraten und einen Erben zu zeugen?“
„Ich bin sicher, eines Tages wird er heiraten und Kinder haben.“
Der Earl blieb stehen und fixierte sie mit einem durchdringenden Blick. In diesem Moment erinnerte er sie sehr an den Sohn, den er so sehr ablehnte. „Wenn Bromwell dazu gebracht werden könnte, den Gedanken an eine weitere Expedition aufzugeben, würde ich mich erkenntlich zeigen. Seine Braut dürfte mit dem äußerst großzügigen Hochzeitsgeschenk eines dankbaren Schwiegervaters rechnen.“
Lord Granshires Angebot war unmissverständlich. Er wollte sie bestechen, seinen Sohn zu heiraten.
„Und Sie müssen sich nicht darum sorgen, dass er im Schlafzimmer versagt“, fuhr der Earl fort. „Sein Buch liefert eine Fülle von Belegen dafür, dass …“
Nell sprang auf die Füße, ehe er den Satz beenden konnte. „Bei Gott, Sie sollten sich schämen, Sir. Was für ein Vater sind Sie bloß! Sind Sie wirklich so engstirnig, so blind für die Verdienste Ihres Sohnes?“
Sie bekam kaum Luft vor Entrüstung, doch sie sprach weiter, ehe Lord Granshire das Wort ergreifen konnte. „Sie sollten stolz auf ihn sein. Was, wenn er missraten wäre? Ein zügelloser Verschwender, ein Schurke, ein Nichtsnutz? Oder ein Spieler und Säufer? Was, wenn er Schulden hätte und sein Geld mit Huren verprassen würde? Stattdessen tut er etwas Nützliches, Ehrenwertes. Viele Väter würden Sie um diesen Sohn beneiden, statt seine Arbeit gering zu schätzen und ihn als Fantast zu betrachten, wie Sie es offenbar tun. Und was seine Heirat angeht“, sie schüttelte nachdrücklich den Kopf, „so besteht keinerlei Notwendigkeit, einer Frau Schmiergeld zu zahlen, damit sie ihn nimmt. Er ist nicht nur intelligent
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