Ein Sommer mit Danica
»Schon zur Herrschaft Venedigs in Piran saß ein Robic am Ufer und angelte. Aber so etwas wie heute ist meiner Familie noch nie passiert –«
Mit Stana konnte er über diese historischen Repliken hinaus nicht sprechen. Sie behandelte Corell bereits wie einen Sohn, kochte ihm Musaka und Baklava, Kadaif und Potitza, Sataraz und Muckalica und andere Köstlichkeiten (für die das Geld früher nie gereicht hatte, ein Wunder also, wie Robic lauthals verkündete), umsorgte ihn wie einen Säugling, bis Robic eines Abends sagte: »Bald ist die Stunde gekommen, wo du ihm die Brust gibst, dem lieben Kleinen …«
Corell schien das alles wie durch einen Nebel zu erleben. Die Liebe, die ihn in Lipica überrannt hatte, vor der er weggelaufen war, weil er wußte, daß nur die Flucht allein für ihn eine Lösung bedeutete, hatte ihn jetzt zu einer Entscheidung gezwungen.
Als Stana und Petar Robic in dem Hotelzimmer erschienen waren, zwei alte, in der Angst um ihre einzige Tochter verwirrte und mit allen kläglichen Mitteln kämpfende Menschen, als er vor ihnen gestanden hatte wie ein gestellter Räuber, den man auch noch beschenkt, damit er seine Beute gut behandelt, hätte er vor Ekel über sich selbst ausspucken können. Statt dessen sagte er: »Wir werden heiraten –«, und damit hatte er etwas ausgesprochen, was Danicas Schicksal für immer an ihn fesselte. Heiraten! Nach Frankfurt zurückkehren in die Wohnung, in der abends die Huren erschienen, vor allem im Winter, wenn es draußen zu kalt war, um sich an seiner Heizung aufzuwärmen, einen Schnaps zu trinken, von ihren Erlebnissen mit perversen Greisen zu erzählen und dann wieder hinauszugehen auf den Strich. Zurück in die Praxis, über die man in Ärztekreisen schwieg und die nur noch geduldet wurde, weil man wußte, daß Corell bei einer Schließung seiner Ordination die Ganoven heimlich weiterbehandeln würde. Der Kreisarzt hatte es ganz deutlich gesagt: »Corell, glauben Sie nicht, daß wir alles dulden, weil wir zu gutmütig sind. Nein! Wir lassen Ihre Praxis nur noch auf, um Sie besser unter Kontrolle zu haben. Wir kennen Sie genau. Jedes Verbot würden Sie mit vermehrter illegaler Arbeit beantworten.« Und Corell – wie immer besoffen bis zum Umfallen – hatte geantwortet: »So wahr es eine Gonokokke gibt – ja! Ohne mich kommt ihr nicht aus, ihr braucht mich … wer soll euch sonst die menschliche Gosse leerfegen und sauber halten? Nicht die Kloaken verseuchen das Leben, sondern der menschliche Müll … und den räume ich euch weg!«
Dahin zurück? Mit Danica?
»Es gibt Städte genug in Deutschland«, sagte sie einmal. Sie saßen wieder oben in den Ruinen, blickten über Piran und hatten den Tag totgeschlagen mit dumpfem Schweigen und einem tierhaften Verkriechen vor allen Begegnungen. Sie hatten in den Ruinen eine Ecke gefunden, wo auch keine Touristen hinkamen, unterhalb der Mauer, die steil abfiel, in der Höhlung eines großen Fensters, das zu einem Zimmer gehörte, in dem früher einmal der Verwalter des Verließes gewohnt haben mochte. Eine brüchige, für den Fremdenverkehr gesperrte Treppe führte hinab, und hier unten, wie Schwalben in ihrem Nest über der Stadt hängend, waren Corell und Danica sicher und allein und gehörten nur sich selbst vor der Kulisse von Meer, Sonne, Himmel und Wind.
»Es gibt viele große Städte –«, sagte Corell.
»Köln. Hamburg. Hannover. Düsseldorf. Essen. Duisburg. Stuttgart. München. Berlin. Ich habe noch mehr aus dem Atlas auswendig gelernt, Sascha. Überall können wir hin. Überall brauchen sie einen Arzt.«
»Und überall werden die Huren und Zuhälter, Diebe und Räuber erscheinen, und es wird immer wieder so sein wie in Frankfurt. Noch bevor ich woanders meine Praxis aufmache, wird man in den gewissen Kreisen informiert sein. Das geht schnell. Ein Telefonanruf genügt, und schon stehen am ersten Tag hundert Jahre Gefängnis vor der Praxistür.« Corell schüttelte den Kopf. »Das klebt an mir, Danica, klebt wie Sirup, den man nicht mehr abwaschen kann. Und wenn man ihn abwäscht, bleibt der Geruch. Er hat sich in die Poren gefressen, wird durch die Blutbahnen getragen, schwitzt sich aus. Dieser Geruch nach Moder, das Parfüm der Gescheiterten, Erkennungszeichen der lebenden Leichname. Für mich gibt es kein neues Leben, dazu habe ich das alte zu sehr zerstört.«
»Dann lebe ich mit dir in deiner zerstörten Welt.« Sie legte den Kopf an seine Schulter. Er umfaßte sie, atmete den Duft ihres Haares
Weitere Kostenlose Bücher