Ein Sommer und ein Tag
Gegenteil getan hätte. «Wir saßen im Krankenhausgarten, und sie versprach mir, dass ich ein besserer Mensch werden würde, wenn ich lernte, ihm zu verzeihen. Sie hat mir gesagt, ich hätte immer viel zu sehr in Schwarz-Weiß gedacht und dass es auch Grautöne gäbe.» Ich schnaube verächtlich, trinke aus und strecke ihm das Glas entgegen.
«Okay. Sie war scheinheilig. Und wenn schon. Bist du nicht trotzdem froh, dass du auf sie gehört hast?»
Ich muss husten. Tja, da hat er wahrscheinlich recht. Entgegen allen Vermutungen hat meine Ehe sich tatsächlich stabilisiert. Ist es die weltgrößte Liebesgeschichte? Sicherlich nicht. Funktioniert sie, trotz seines Seitensprungs und der Tatsache, dass mein Gehirn quasi ausradiert wurde und ich leider keinerlei Geschichte besitze, auf die ich in einer Krise zurückgreifen kann? Unter diesen Umständen würde ich sagen, ja, das tut sie.
Bevor ich dazu komme, meine Gedanken auszusprechen, hält die Limousine am Straßenrand. Anderson nimmt meine Hand, als ich den Gehsteig betrete. Um uns herum explodieren die Blitzlichter. Einen Augenblick lang bin ich geblendet, das Blut rauscht durch meinen Körper, und mein Herz pocht spürbar in meinem Brustkorb.
«Scheiße!», keuche ich, und dann spüre ich, wie er sanft seine Hand auf mein Kreuz legt, um mir Sicherheit zu geben.
«Geht es dir gut?»
Überhaupt nicht, aber ich nicke trotzdem. Jetzt gibt es sowieso kein Zurück mehr. Das Licht ist zu grell, das Geschrei der Fotografen zu laut. Und dann weiß ich, was los ist: Das Ganze ist wie ein riesiger, makaberer Flashback vom Absturz. Die Stimme von Carly Simon, tief in meine Hirnwindungen graviert – «We’re coming to the edge, running on the water, coming through the fog, your sons and daughters!» –, die angsterfüllten Schreie der anderen Passagiere angesichts der Todesgefahr, auf die wir zutrudeln; die Scheinwerfer über mir, die blenden und mir regelrecht in die Augen stechen; die folgenden Minuten, in denen Rauch und Trümmer und durch die Gegend rollende Teile zu einem einzigen Chaos verschwimmen. Der Atem sprengt mir fast die Lunge, und eine fürchterliche Minute lang weiß ich nicht mehr, was real ist, die Wirklichkeit hier oder die Bilder aus meiner Vergangenheit, der Augenblick oder die Erinnerung.
«Geht es dir gut?», fragt Anderson noch einmal, und weil ich die aufrichtige Besorgnis in seinem Gesicht sehe und er mir wortwörtlich den Rücken stärkt, antworte ich: Ja, es geht mir gut . Ich muss ihn nicht fragen, ob ihn der Trubel auch an den Absturz erinnert, weil ich weiß, dass ihn sowieso alles an den Absturz erinnert. Das ist der Grund, weshalb er kaum schlafen kann und in der Viertelstunde auf dem Weg hierher zwei Jack Daniel’s gekippt hat.
«Anderson, Nell!» Die Fotografen schreien uns an, als wären wir Herdenvieh. Plötzlich taucht aus dem Nichts eine PR-Frau mit ernstem Gesicht auf, die aussieht, als wäre sie höchstens vierundzwanzig und als würde sie ihren Job viel zu wichtig nehmen. Sie wedelt mit der Hand. Keine Interviews! Anschließend bugsiert sie uns durch den Pressepulk und hält erst wieder an, als wir sicher hinter der Absperrung stehen, damit sie uns vor dem Banner des Tierschutzvereins postieren kann.
«Nell!», kreischt mir jemand hinter der Presseabsperrung zu. Anderson und ich drehen uns gleichzeitig um und entdecken Paige Connor, die uns wie wild zuwinkt.
«Die will dir hundertprozentig eine Falle stellen», merkt Anderson an, ohne sein Kameralächeln auszuknipsen.
Aber es ist zu spät. Dieses Mal folge ich meinem Instinkt, vertraue meinem Bauch. Egal, was sie von mir möchte, egal, was sie ans Licht zerren will, soll sie sich ruhig von ihrer schlimmsten Seite präsentieren und mir dafür zeigen, was sie hat. Mag sein, dass ich mich nicht daran erinnern kann, was ich alles erlebt habe, aber ich erinnere mich langsam wieder daran, wer ich bin. Und ich bin mit Sicherheit niemand, der in einer Schlacht mit irgendeiner Klatschreporterin den Kürzeren zieht.
«Hallo, Paige», begrüße ich sie. «Was gibt’s?»
Anderson ist in Sekunden neben mir. «Du musst nicht mit ihr sprechen.»
«Ganz egal, was zwischen uns war, Anderson», faucht Paige, «das hier geht dich wirklich nichts an.»
Ich sehe ihn an. Er zuckt nur mit den Achseln, und ich weiß, dass sie irgendwann mal zusammen im Bett gewesen sein müssen und er sie höchstwahrscheinlich genauso behandelt hat wie so viele andere Frauen in der Vergangenheit. Tja,
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