Ein Sommer und ein Tag
Cocktailkleid. Er zieht ein und gibt dem Kleid ein neues Muster.
Rory sieht mich eisig an, während Samantha seufzt und auf ihren Schoß starrt. Stimmt das? Mache ich es tatsächlich immer allen besonders schwer? Nein, Verletzlichkeit ist wirklich noch nie meine Stärke gewesen.
Ich bin erschöpft von ihrer Reumütigkeit, ich kann dieses ganze Theater keine Sekunde länger ertragen. Ich bitte sie zu gehen, und Rory tut es mit immer noch hoch erhobenem Kinn, als gäbe es nichts, wofür sie sich entschuldigen müsste, als würde das Eingeständnis einer Mitschuld sie tatsächlich umbringen. Sie und meine Mutter – ich muss fast laut lachen – sind eindeutig aus demselben Holz geschnitzt. Samantha ist zerknirschter und nimmt mich zum Abschied fest in den Arm. Ihre Stimme bricht unter der Last ihrer Schuld – weil sie es mir nicht erzählt hat, weil sie nicht mehr getan hat, um mich zu unterstützen, wohin es mich auch immer treibt.
«Du kannst mir nicht helfen», erkläre ich, trotz der Lektion der letzten Stunden. «Das ist ganz allein meine Sache.»
«Sag das bitte nicht», fleht sie. «So warst du früher. Allein. Unabhängig. Auch wenn du es gar nicht musstest.»
«Wieso waren wir Freundinnen?», will ich wissen.
«Wie bitte?», stammelt sie. Sie steht im Türrahmen, mit einem Fuß schon draußen auf dem Gang.
«Wenn ich so eine Eiskönigin war, weshalb waren wir dann befreundet?»
Sie sieht mich irritiert an, doch dann entspannt sich ihr Gesicht.
«Aus vielen Gründen», erläutert sie. «Weil du es warst, die mir im College immer gesagt hat, wann ich aufhören muss, ehe ich kotze. Weil du es warst, die mich durch die Prüfungsvorbereitungen geprügelt hat und mit mir bis Sonnenaufgang in diesem schrecklichen Diner bei uns unten im Haus saß, wo es diese ungenießbare Matzeknödelsuppe gab, weil du wusstest, dass ich unbedingt in Harvard Jura studieren wollte. Und als ich mir beim Skifahren in Utah die Nase gebrochen habe, hast du nicht nur im Hotelzimmer die blutigen Taschentücher eingesammelt, sondern mir auch die Nasen-OP ausgeredet.» Sie berührt sanft die kleine Beule auf ihrem Nasenrücken. «Du meintest, unsere Narben verleihen uns Charakter.»
«Das habe ich gesagt?»
«Allerdings.» Sie nickt. «Was natürlich nicht heißen soll, dass ich mich nicht trotzdem erkundigt habe, als wir wieder zurück waren, aber letztendlich habe ich es gelassen. Ich lebe damit. Zumindest tue ich so, als würde es mich interessanter machen.»
Sie lächelt, traurig zwar, aber es ist trotzdem ein Lächeln.
«Du hättest es mir erzählen müssen.»
«Ich weiß, aber lass bitte nicht zu, dass das zwischen uns steht, ja? Früher hättest du mir das vielleicht nie verziehen.» Sie umarmt mich wieder, macht einen Schritt zurück und sieht mich an, prüfend, als würde sie mich zum allerersten Mal sehen. «Nimm es nicht wichtiger als alles andere.»
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25
A m Sonntag wache ich früh auf. Ich habe nur zwei Stunden geschlafen und einen Kater wie wahrscheinlich noch nie zuvor in meinem Leben. Der Restalkohol zieht alles Wasser aus meinen Zellen, dehydriert sie völlig. Ich werfe einen Blick auf mein Handy, um nachzusehen, ob Liv zurückgerufen hat, aber es zeigt nur zwei neue SMS an. Eine ist von Samantha, die sich noch einmal entschuldigt, die andere von Anderson, der sichergehen will, dass ich mich im Morgengrauen nicht um die Ecke gebracht habe (oder in die Berkshires getorkelt bin, um Peter um die Ecke zu bringen).
Ich ziehe ein Kapuzenshirt und eine Jogginghose über und schlüpfe zur Tür hinaus. Auf meinem Weg durch die stillen Straßen der Upper West Side kann ich meine Eingeweide förmlich blubbern hören. Es fühlt sich an, als würde sich eine Schlammlawine durch meinen Verdauungstrakt bewegen. Meine Augen sind verquollen, die Haare sind zu einem unordentlichen Pferdeschwanz hochgebunden, und um noch tiefer zu fallen als sowieso, muss ich auch noch an den Zeitungskiosken vorbei, die sich ausnahmslos mit dem Titelblatt der Sonntags- Post geschmückt haben. «Vergiss es!», posaunt die riesige Schlagzeile in die Welt hinaus. Darunter ein Foto von Ginger und Peter – verschwommen, wie mit einer Handykamera aufgenommen –, die Wangen aneinandergedrückt, beide unerträglich fröhlich lächelnd, über ihnen das Leuchten eines Fernsehers, vermutlich in einer Sportbar. Und ich bin auch da – es ist wieder dieses unsäglich traurige Foto vom People -Magazin: mich sichtlich an meine
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