Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks
Sklaven unserer selbst sind.
Vielleicht erscheint mir der David auch deshalb anders, weil er im Unterschied zu mir während all der Jahre so unbelastet dasteht. Er wurde vollendet und aus seinem Marmorblock befreit, bis auf die Füße. Also … vielleicht doch nicht ganz befreit. Aber das ist eben der Preis, den es zu bezahlen gilt, wenn man ein Abgott ist. Ich frage mich, was meinem Mann wohl durch den Kopf ging, als ich ihn mit dieser Skulptur verglich. Fühlte er sich wie ein König? Wie eine aus dem Stein befreite Statue? Dazu bestimmt, eines Tages zu stürzen?
Mit zwanzig verbrachte ich viel Zeit mit der Betrachtung der Sklaven. Besondere Aufmerksamkeit schenkte ich Atlas, dem das Gewicht seines »unbefreiten« Kopfes schwer auf die Schultern und Hände zu drücken scheint. In jenem Jahr damals in Florenz stand ich vor diesen geplagten Gestalten und dachte: Das bin ich. Alles Gewicht und der ganze Erwartungsdruck lasten auf meinen Schultern .
Diesmal war es anders. Ich fand es traurig, sie zu sehen. Mein Mitgefühl für sie kam mir alt und geringer vor. Seid ihr immer noch hier? Unbefreit? Mein Gott, wisst ihr, es gibt da
etwas, das sich Therapie nennt. Die meisten Krankenkassen übernehmen die Kosten dafür. Es funktioniert wirklich großartig. Und du meine Güte, eure Rücken müssen euch doch schon schier umbringen. Ich habe da die Telefonnummer von einem tollen Chiropraktiker.
Wieder draußen im Getümmel von Florenz war ich froh, mich unter echten Menschen zu bewegen, ob versklavt oder befreit, aber immerhin am Leben. Wir schoben uns durch Touristengruppen auf unser nächstes Ziel zu: die Uffizien.
Inzwischen kann man sich Eintrittskarten reservieren lassen, was aus dem zweistündigen Anstehen von damals einen fünfminütigen VIP-Gang vorbei an nickenden Museumswärtern macht, die einen für diese weise Voraussicht zu mögen scheinen.
Ich liebe diese altvertrauten Hallen – ursprünglich war es die Privatgalerie für Cosimos fantastische Renaissance-Sammlung im Medicipalast. Ich kann mir gut vorstellen, wie die Vorfahren der Caterina de’Medici sie des Abends durchstreiften.
Wir bewegten uns langsam und blieben begeistert, wie ich es bereits einmal erlebt hatte, im Botticelli-Raum stehen. Die Geburt der Venus war verblichen und stumpf, denn als ich sie das letzte Mal sah, 1986, während meines Jahres in Florenz, da war sie frisch restauriert und mir so lebendig und rosig erschienen. Jetzt wirkt sie glaubwürdiger auf mich, sie ähnelt mir – ein bisschen ausgebleicht vielleicht, die verstrichenen zwanzig Jahre haben sie ein wenig ermüdet. Und die Nackten der Renaissance lassen meine Figur aussehen, als würde ich zumindest eine halbe Muschelschale verdienen.
Ich frage mich, was passieren würde, wenn David und Venus sich Auge in Auge gegenüberstünden. Vielleicht etwas Ähnliches wie zwischen mir und meinem Mann an dem
Abend vor ein paar Tagen, als er mir sagte, er sei sich nicht sicher, ob er mich noch liebe. Müde … gefallene … Abgötter. Ein guter Rat nebenbei: Halten Sie sich bloß niemals für »Glückskinder«. Und gründen Sie keine Ehe darauf.
Da ist es viel besser, an Florenz zu denken. An das Gefühl beim Spazieren durch die alten Gassen. Gehen und schwitzen und nicht zunehmen. Keine Magenbeschwerden spüren. Auch nicht diesen Schmerz an meiner rechten Bauchseite, der mir das sichere Gefühl vermittelt, bald an etwas Schrecklichem und Schmerzhaftem zu sterben. Mich nicht darum kümmern, was vor mir liegt, und nicht wissen zu müssen, wie ich im Bedarfsfall aus einer prekären Situation komme. Nicht darüber nachdenken, was in meiner Handtasche ist – ob ich meine Notfallsachen wie Hustenbonbons oder homöopathische Beruhigungspillen dabeihabe. Meine Obsession mit Lippenbalsam vergessen. Was die Welt der Neurosen angeht, halte ich mich selbst für relativ schwach betroffen, aber das heißt nicht, ich würde mich frei davon fühlen.
Erst in Florenz war mir erstaunlich befreit zumute.
Ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zurückzukehren und diesen Gemütszustand mit meinem deprimierten Mann zu teilen. Um seine eigene Heilung anzuregen. Als seine Frau, die in besserer Verfassung denn je ist.
Ich wünschte mir ein Foto von mir, auf dem dieses Gefühl der wiederentdeckten Lebendigkeit zu sehen war. Diese Ruhe und Glückseligkeit. Ich wollte schon nach meiner Kamera greifen, ließ es dann aber doch bleiben. Ich brauchte dieses Bild nicht. Ich bin mit meiner Tochter hier. Wir
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