Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks
müssen es niemand beweisen. Wir haben es schon vor David bezeugt oder, was noch besser war, vor den Sklaven. Auch vor der verblichenen Venus. Ebenso vor Donatellos trägem David, der gerade auf dem Bauch liegend im Bargello von Frauen in
weißen Laborkitteln restauriert wurde, die mich an die Kosmetikerinnen von Clinique im Kaufhaus erinnerten. Außerdem vor Perseus, den Sabinerinnen in der Loggia, dem Neptun am Brunnen.
Hallo zusammen , rief ich ihnen aus tiefstem Herzen, aber stumm zu. Ich bin wieder da. Und ihr würdet Montana lieben. So viele Bäume .
Als mir die folgende Erkenntnis dämmerte, war das einer der tiefsinnigsten Momente in meinem Leben.
Es war der Morgen unseres letzten Tages.
Und ich hörte doch tatsächlich eine Stimme. Ich weiß – o Gott – aber nicht so eine. Ich meine das ernst. So war es. Ich hörte eine Stimme. Es war meine eigene, die mir offensichtlich etwas vom bereits erwähnten Glockenturm zurief und mir gleichzeitig so nah erschien wie das Kissen unter meinem Kopf.
Es war eine echte Erleuchtung – eine große, das wage ich zu behaupten. Quasi eine Fortsetzung der Erleuchtung im Internat, als ich endlich begriff, was Salinger am Ende von Franny und Zooey gemeint hatte. Dazu, wo das himmlische Reich liegt. Damals war ich schätzungsweise noch nicht alt genug, um etwas so schmerzlich zu vermissen wie in den letzten zwanzig Jahren. Außerdem weiß ich inzwischen nicht mehr so genau, was ich damals in jener Seminararbeit mit den vielen Ausrufezeichen genau geschrieben habe.
Ich lag also an unserem letzten Tag in Florenz noch im Bett, schaute auf meine mit offenem Mund schlafende Tochter, hörte einen Hund bellen und stellte mir vor, dass er auf einem alten Balkon irgendwo über den Straßen von Florenz stand. Vespas knatterten vorbei, höfliches Buongiorno war zu vernehmen, dazu der Geruch nach Kaffee und, ja, nach Erschöpfung und etwas sehr Altem.
Was ich nicht verspürte, war die erwartete Panik, weil ich wusste, dass ich all das zurücklassen musste. Das verzweifelte Verlangen, noch ein einziges Mal allein in diese Welt jenseits der massiven hölzernen Fensterläden und unseres winzigen Balkons einzudringen – mich zu fühlen wie mit zwanzig und voller Energie. Der Rausch, in meine alten Fußstapfen zu treten, in einen Zustand von Abenteuerlust zu verfallen. Doch ich musste nirgendwohin. Es genügte, im Bett liegend meine schlafende Tochter zu betrachten.
Mit einer Stimme, die nicht die einer Zwanzigjährigen, aber auch nicht die einer Vierzigjährigen war, hörte ich leise und noch ein wenig heiser: Es ist alles da. Das war es schon immer.
Vergiss Puccini. Vergiss Michelangelo. Sie bat mich zu vergessen, wie der anonyme Autor des 14. Jahrhunderts, der The Cloud of Unknowing verfasst hat, es bereits empfahl. Ein Meer des Vergessens. Vergiss Alter, Gesellschaftsschicht, Karriere, Familienstand und sogar Mutterschaft.
Es war eine Stimme, die aus meinem tiefsten Innern kam. Aus meiner durch und durch wahren Natur. Meinem schlichtesten und ehrlichsten Selbst: Es ist alles da , sagte sie zu mir. Es ist in dir.
Das war ein Moment der Erleuchtung. Es war das andere Ende des Regenbogens im Hinblick auf das, was ich Jahre vorher für den elegant gemeinen Kommentar meines schreibenden Freundes gehalten hatte: »Der einzige Unterschied zwischen veröffentlicht und nicht veröffentlicht zu werden ist das Veröffentlichtwerden.«
Bis zu jener morgendlichen Erkenntnis in Italien hatte mich diese Bemerkung verrückt gemacht. Bis ich beim Aufwachen mit dem Geschenk des Verstehens bedacht wurde.
Ich hatte mir also selbst etwas geschenkt, wonach ich mich verzweifelt gesehnt hatte – etwas, das ich mir ebenso lange
gewünscht hatte wie eine Buchveröffentlichung. Der Unterschied bestand darin, dass Italien etwas war, dessen Ausgang ich, abgesehen vom Ungemach beim Reisen, selbst kontrollierte. Ich war für dieses Glücksgefühl verantwortlich. Für meine eigene Kraft zu lieben, die glücklich macht. Daran gibt es auch nichts Verrücktes. Wie ja auch meine Therapeutin mir beteuert hatte.
An jenem letzten Morgen, während ein Hund bellte und meine Tochter neben mir schlief und ich den Kaffeeduft roch, da begriff ich es endlich. Und ich verspürte keine Unruhe, wie beim Anblick eines Stücks Seetang, das einem die Strömung sogleich wieder entreißt, und das – schon bei seinem Eintreffen, aufgrund der Gewissheit des sogleich bevorstehenden Abschieds – ein trauriges Gefühl der
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