Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks
Position kann ich in diesem Szenario einnehmen? Wie kann ich mich vor Zorn schützen? Vor der Opferrolle. Vor Leid. Denn mit Leiden bin ich fertig. Nicht fertig bin ich dagegen mit meinem Mann. Und ich glaube auch nicht, dass er mit mir fertig ist.
Aber es gibt eine Falle, in die ich immer wieder hineintappe: das Wollen. Ich klammere mich an das angestrebte Ziel. Ich möchte mit ihm alt werden. Ich möchte mit ihm die Welt bereisen, wie wir es uns in unseren Zwanzigern ausgemalt haben. Wir haben Spaß zusammen. Ich weiß, dass er das auch so sieht. Er hat mir das mal explizit attestiert. »Du bist so
witzig«, hat er gesagt. Aus irgendeinem Grund habe ich das als großes Kompliment abgespeichert.
Es scheint mir wichtig, kindliche Quellen anzuzapfen, die meinem Herzen guttun – die mir etwas geben, statt zu nehmen. So schlage ich etwa Madeleine L’Engles Die Zeitfalte auf – ein Buch, das ich als Mädchen sehr mochte. Ich hatte vergessen, dass in dieser Geschichte der Vater verschwunden ist. Die Kinder finden ihn schließlich in der Fünften Dimension wieder, wo er sich als Gefangener des Bösen aufhält. Und es ist schon ziemlich weit mit ihm gekommen. Das Einzige, wofür er kämpfen würde, sind seine Kinder. Nicht für sich selbst. Daher kommen seine Kinder zu ihm. Und er geht für sie durch seine ganz eigene Hölle. Gütiger Gott.
Alles ist an mich gerichtet. Und posaunt die Botschaft heraus, dass ich nicht allein bin. Ich fühle mich wie in einer anderen Dimension, in der meine Sinne geschärft sind – die Botschaften klarer.
Später komme ich vom Gießen im Garten herein. Mein Sohn sieht sich gerade Die Unglaublichen an. »Denk dran«, sagt die kleine hexenhafte Modedesignerin gerade, »du bist Elastigirl! Erinner ihn daran, dass er Mr. Incredible ist. Und jetzt mach dich auf die Suche nach ihm und bring ihn zurück!«
Das hat gesessen.
Gütiger.
Gott.
Und Mary Poppins . Die Kinder und ich sehen uns den Film an einem verregneten Nachmittag an. Nach all den Jahren, in denen ich die Bücher und den Film geliebt habe … da begreife ich erst jetzt, dass es um die Identitätskrise eines Ehemannes geht, der seine Arbeit verloren hat. Und darum, wie er dank der Liebe seiner Kinder und seiner Frau sein Selbstwertgefühl zurückgewinnt. G.G.
Meine Großmutter pflegte zu sagen: »Es wachen mehr Augen über dich, als du dir vorstellen kannst.«
Das habe ich in Italien gespürt. Überall waren diese Augen, und nicht bloß Augen. Leute tauchten auf und brachten uns zu den richtigen Zügen, richtigen Straßen, richtigen Schlangen. Menschen machten sich zu unseren Fürsprechern und fanden die italienischen Worte, die uns fehlten.
Jetzt spüre ich diese über mich wachenden Augen hier. Und sei es in Gestalt einer Adlerfeder auf einem Waldweg. Als Schatten des Espenlaubs auf der Wiese vor dem Fenster meines Arbeitszimmers. Oder ich erkenne sie darin, wie meine Retriever beim Spaziergang ganz gegen ihre Gewohnheit an meiner Seite bleiben. Darin, wie durstig mein Körper sich in einen Bergsee stürzt und wie zufrieden er danach in der Sonne trocknet. Oder wie ich mich an den Rücken meines Pferdes schmiege. Die Welt scheint sich langsam um mich zu drehen, mir Mut zuzusprechen.
Es ist alles da.
Vielleicht war die Stimme, die ich in Italien vernommen habe, die kollektive Stimme meiner Großmütter und Urgroßmütter, die mir mitteilen wollten, was sie inzwischen wissen – in dem Versuch, mich davor zu bewahren, was auch sie zu ihren Lebzeiten noch nicht wussten. Dieses Jahr werde ich beim Aufräumen nach dem Thanksgiving-Festmahl jedenfalls sehr aufmerksam lauschen.
Es wachen mehr Augen über dich, als du dir vorstellen kannst. So sehr ich Trost aus dem Vermächtnis meiner Vorfahrinnen ziehe, bis jetzt habe ich meiner Familie noch nichts vom Elend unserer Ehe erzählt. Ich möchte weder das Gefühl haben, dass sie sich Sorgen machen, noch hören, was sie mir als Lösung vorschlagen würden. Denn ihnen wäre sicher sehr daran gelegen, diese Situation in Ordnung zu bringen. Ich
schätze mal, dass das unvermeidlich ist, wenn man so lange das Schlusslicht ist. Wenn man aufwächst, ohne ihre Geheimnisse zu kennen, sie in ihrem Kummer zu trösten und ihnen einfach ebenbürtig zu sein. Sie glauben, in einer Weise über dich verfügen zu können, wie ich es mir nicht mehr vorstellen kann. Auch wenn ich ihnen viele Jahre den Zugriff auf mich gestattet habe, weil ich auf diese Weise das Gefühl hatte, geliebt zu werden.
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