Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks
seine Schwester, die entgegen jeder Wahrscheinlichkeit neun Jahre lang erfolgreich gegen den Krebs gekämpft hat, auf einmal nur noch eine Prognose von drei bis achtzehn Lebensmonaten bekommen hat.
Seine geliebte Schwester, die ihm in seiner Kindheit fast eine zweite Mutter gewesen ist und jetzt selbst fünf Kinder hat. Der bescheidenste und unprätentiöseste Mensch, den ich kenne.
Ich möchte, dass er zu ihr fährt. Ihr mit den Kindern hilft. Und auch mit dem Haus, denn Sie müssen wissen, dass ihr Ehemann sie nach knapp dreißig Jahren für eine Zwanzigjährige verlassen hat und nun überall rumerzählt, er wäre verlobt.
Das traf sie bis ins Mark. Und dann kam der Krebs zurück.
Ich möchte, dass mein Mann zu ihr fliegt, um für sie und ihre Kinder da zu sein, die auf einen Schlag regelrecht traumatisiert
wurden – in einer Situation, die noch Augenblicke zuvor ihre glückliche Kindheit war. Ich möchte, dass er spürt, was es bedeutet, im Angesicht echten Verlusts eine Kraftquelle zu sein. Wenn nicht Geld über Wohl und Wehe entscheidet, dann sind es die Liebe und der Tod. Vergessen Sie die Steuer. Ich weiß, wovon ich spreche, weil ich es am Sterbebett meines Vaters selbst erlebt habe. In welcher Krise auch immer mein Mann gerade stecken mag – er ist zumindest gesund. Er hat eine Familie. Eine liebende Ehefrau, die an ihn glaubt.
Also warte ich.
Er hat ein paar Rettungsleinen, die sich ihm eine nach der anderen angeboten haben. Helikopterstunden, Männerrefugium, Therapie. Und jetzt die Gelegenheit, seiner sterbenden Schwester beizustehen – was sich als viel wirkungsvoller erweisen könnte als jede Therapie der Welt.
Ich möchte, dass er zu seiner Schwester fliegt, sie in seinen Armen hält und mit ihr schweigt, ihr zuhört und aus seiner Welt der Kränkung herauskommt, die ihn schon so schrecklich hat leiden lassen. Ich schicke ihm diese Botschaft via Osmose, weil ich weiß, dass er selbst darauf kommen muss: Fahr zu ihr. Geh und sei für jemand anderen stark. Vergiss deine gescheiterte Firma und unsere Hypothek und unsere Schulden. Geh und verrichte eine wichtigere Arbeit. Vielleicht inspiriert es dich sogar, einen Job zu finden, den du liebst. Eigentlich solltest du sogar dankbar sein für unser kleines arbeitsloses unkompliziertes Leben in den Bergen, wo man fünf Meilen von einer Arbeitsstelle, zwei von der Schule, zehn vom Skigebiet und eine halbe Meile vom Golfplatz entfernt wohnen kann. Denn das macht es beispielsweise möglich, dass du das Baseballteam deines Sohnes trainierst, deine Tochter beim Fußballmatch anfeuerst, Skifahren und Golf spielen kannst, und zwar je nach Jahreszeit an einem normalen
Arbeitstag. Kein Pendlerzug, kein Verkehrsstau, keine vier Dollar für einen Becher Kaffee.
Ich möchte, dass er sich in der Mitte eines Wortes wiederfindet, und dieses Wort heißt: Dankbarkeit.
Nicht die Art von Dankbarkeit, die man vielleicht auf einem T-Shirt aus einem Katalog für Produkte aus Bio-Baumwolle findet. Oder die, die ein Motivationstrainer auf einer CD anführt, die man sich im Auto anhören kann. Keine übernommene Dankbarkeit, sondern die ganz eigene. Dankbarkeit, die man sich selbst erarbeitet hat – und aus tiefstem Herzen empfindet. Dankbarkeit dafür, am Leben zu sein. Dankbarkeit für die Menschen, die man liebt. Können Sie sie spüren?
Selbst wenn Ihr Partner Sie verlassen sollte – können Sie sie spüren?
Mein Mann kauft sich ein Flugticket, um in wenigen Wochen bei seiner Schwester zu sein. Ich bin stolz auf ihn. Wenn er Verantwortung für sie aufbringen kann, vielleicht gelingt ihm das dann auch für sich selbst. Vielleicht beginnt er sogar wieder zu träumen. Sie wird sich das für ihn wünschen. Für ihren kleinen Bruder, der einst so voller Träume war.
Dabei fällt mir etwas ein, das letzte Woche passiert ist. Ich war auf dem Heimweg, nachdem ich die Kinder bei einer Geburtstagsparty abgesetzt hatte. Da sah ich sein Auto vor einer Bar und hielt an. Plötzlich wollte ich seinen »Saufkumpanen« zeigen, was er zu verlassen gedachte, damit sie sagen konnten – Alter, was zum Teufel tust du da? Weißt du denn nicht, was für ein Glück du hast?
Es war ein bisschen beängstigend. Sein geheiligtes Terrain. Was würde ich dort vorfinden? Aber ich ging hoch erhobenen Hauptes hinein, bestellte mir ein Bier und entdeckte ihn an einem Tisch voller Leute. Verheiratete Leute. Nicht die Typen, die jeden Tag um fünf nach der Arbeit hier einfallen und einander
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