Ein Sonntag auf dem Lande
dass sie ein ernsthaftes Mädchen ist, aber das spielt keine Rolle. Es ist mir unangenehm, sie ganz allein zu wissen.«
»Nicht wahr?«, sagte Monsieur Ladmiral in einem leicht unruhigen, abwartenden Ton.
»Oh, ich weiß schon«, sagte Gonzague, »dass sie nicht wirklich allein ist.«
»Was meinst du damit?«, fragte sein Vater lebhaft. Er wusste genau, worauf sein Sohn zu sprechen kommen wollte. Er verabscheute diese Art von Befragung, die ihn in verbotene Regionen führte, und biss dennoch an.
»Nichts, nichts. Wenn ich sage, dass sie nicht allein ist, meine ich, dass sie ganz viele Leute sieht. Ich habe sogar den Eindruck, dass meine liebe Schwester vielmehr umschwärmt wäre.«
»Ja«, sagte Monsieur Ladmiral, der schlagartig beruhigt war und beim Gedanken an die Erfolge seiner Tochter richtig strahlte, »ja, ich glaube, dass sie sehr gemocht wird. Und ich bin überzeugt, dass sie, wie du sagtest, sicher kein Mädchen ist, das Dummheiten macht.«
»Nein, ich glaube nicht«, sagte Gonzague äußerst reserviert, was sein Vater aber nicht wahrhaben wollte.
Sie drangen nicht weiter in Irènes Privatleben vor. Monsieur Ladmiral dachte: Der brave Gonzague ist voller Andeutungen. Weiß er etwas? Will er mich ausfragen? Wozu sollte es gut sein, diese Fragen zu umkreisen, wenn wir darüber nichts wissen? Immerhin kenne ich Irène. Hätte sie einen … wenn es das wäre, was sich Gonzague anscheinend vorstellt, ist sie die Aufrichtigkeit in Person und hätte es mir gesagt. (Er wusste sehr wohl, dass das nicht stimmte. Er war sich sogar völlig sicher, dass Irène einen Liebhaber hatte, auch wenn er keinen Beweis dafür hatte, und dass sie es ihm nie sagen würde, dass er sie nie danach fragen würde und dass sie beide völlig recht hatten zu lügen.)
Gonzague seinerseits dachte nach Gesprächen dieser Art, dass sein Vater blind war und dass das letztlich so besser war. Dennoch konnte er nicht an sich halten und fing bei nächster Gelegenheit wieder mit seinen sinnlosen Anspielungen an. Es war stärker als er. Es ist gestattet, blind zu sein, aber wenigstens muss man sich darüber im Klaren sein und die Unbeholfenheiten eines Blinden einräumen. Dass Irène einen Liebhaber hat, geht ja noch. Gonzague weiß, dass seine Schwester alle Freiheit hat, und er fühlt sich weder als älterer Bruder noch als Hüter der Ehre. Ihn ärgert, dass Irène, wenn sie einen Liebhaber hat, nicht darunter leidet, dass sie nicht einmal den Tadel ihres Vaters zu erdulden hat und wenigstens Schuldgefühle hat, ihm Sorgen bereitet zu haben. Gonzague ist wie alle gewissenhaften, ordentlich verheirateten, tugendhaften Menschen, die – und sogar gern – zahlreiche Pflichten erfüllen: Sie werfen denjenigen, die es verstanden haben, solche Ketten zu vermeiden, nicht vor, dass es ihnen gelungen ist, sich zu befreien. Aber sie wollen nicht, dass sie auch noch glücklich sind. Das wäre zu einfach. Wenn die Freiheit eine einfache Sache ist, dann hält nichts mehr.
Nun war aber offensichtlich, dass sich Irène glücklich fühlte – und ganz besonders in diesem Moment auf dem Dachboden, inmitten von diesem großen Chaos ausgepackter Stoffe. Sie hatte inzwischen Mercédès herbeigeholt und mit ihrer Hilfe drei riesige Kartons mit kostbaren Sachen gefüllt. Nicht ohne en passant der Bediensteten ein paar Geschenke zu machen. Mercédès hatte weder Bedarf an alten Ballschuhen noch an einem falschen Hermelinmuff, der so vergilbt war wie der Schnauzbart eines Rauchers, aber sie war nie so glücklich gewesen. Nichts rührt eine Bedienstete mehr als ein Geschenk; es ist das Zeichen der Gleichheit, wiegt den Lohn auf, tilgt ihn.
Irène und Mercédès trugen die verschnürten Pakete zum Wagen. Irène tanzte vor Freude. Sie versuchte ihrem Bruder und Marie-Thérèse zu erklären, wie sie diesen Trödelkram, den sie gerade eingepackt hatte, verwerten würde. Gonzague tat so, als wollte er keine Erklärungen.
»Wenn diese Überbleibsel in Mode sind«, sagte er und hob die Hand, »gönne ich euch das. Und wenn Papa sie dir gibt, ist das in Ordnung. Alles, was hier ist, gehört ihm. Er verfügt darüber so, wie er es möchte.«
Irène spürte einen Hintergedanken, der Besitz und Interessen ins Spiel brachte, und war angewidert. Sie antwortete bewusst beleidigend und weil sie gekränkt war, dass sie an diesen Aspekt der Frage nicht gedacht hatte:
»Ich will niemanden bestehlen. Alles, was ich mitnehme, kaufe ich.«
Gonzague verlor die Fassung. Es gab
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