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Ein Sonntag auf dem Lande

Ein Sonntag auf dem Lande

Titel: Ein Sonntag auf dem Lande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bost
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sich auf den Diwan fallen, über dem die große gelbe Seidenstola lag.
    »Vorsicht! Das ist drapiert!«
    Gonzague hatte einen Schrei ausgestoßen. Monsieur Ladmiral, der ihn wegschob, fand, dass sein Sohn einen äußerst zornigen Ton angeschlagen hatte, und er nahm Irène deshalb nicht mehr übel, seinen Diwan durcheinandergebracht zu haben.
    »Wo hast du diese gelbe Stola her?«, fragte Irène.
    »Vom Dachboden, stell dir vor, ganz zufällig. Ich habe dort alte Kartons voll mit uralten Stoffen gefunden. Wunderschöne Sachen. Seit meinem Umzug steht das da oben; ich habe nicht mehr daran gedacht.«
    »Das interessiert mich wahnsinnig«, sagte Irène.
    Auf geht’s. Sie nahm ihren Vater mit auf den Dachboden. Fünf Minuten später hatte sie alles auf den Kopf gestellt. Sie durchwühlte die Schachteln, griff nach diesem und jenem, öffnete Kartons, leerte, umgeben von leuchtenden Stoffen, mit schnellen und präzisen Handgriffen Koffer, faltete eine Stola auseinander, rollte einen Schal aus, schnappte sich ein Kleid und breitete bunte Fetzen aus. Monsieur Ladmiral saß auf einer alten Nagelkiste und beobachtete sie, erschrocken und entzückt zugleich. Von Gonzague und seiner Frau war nicht mehr die Rede. Irène hatte sie – ganz in ihrer Leidenschaft für Stoffe versunken und abgetaucht in den Kartons, die überquollen wie die eines Straßenhändlers – vergessen.
    »Das! Und das! Du hast mir nie davon erzählt … aber ich habe so was geahnt und wollte dich danach fragen. Ich war mir sicher, dass in deinen alten Koffern Berge von Sachen lagerten. Ich hab das alles früher mal gesehen, erinnere ich mich. Aber das hatte mich nicht interessiert, und so hatte ich nicht darauf geachtet. Du gibst sie mir doch? Ja, ganz sicher gibst du sie mir … Was für eine tolle Idee, hierherzukommen. Und wenn sich Marinette nicht das Bein gebrochen hätte … Da, ich werde aus dieser Bluse etwas für sie machen, sie liebt Grün. Womit sie falschliegt, sie hat einen Typen getroffen, der ihr das eingeredet hat. Vielleicht ein Farbblinder? Oder ein Farbenblinder? Wie sagt man gleich?«
    Irène hatte als Kind jeweils erst abends, beim Einschlafen, aufgehört zu reden. Kaum schlug sie am nächsten Morgen die Augen auf, ging es wieder los und hörte den ganzen Tag nicht mehr auf. Sie war ein sehr schönes Mädchen, kräftig und fest gebaut, mit brauner Haut und fast schwarzen Augen, die derart strahlten, dass sie, selbst wenn sie ruhten, so aussahen, als ob sie hin und her hüpften. Sie hatte Monsieur Ladmiral immer Angst gemacht. Als sie achtzehn, zwanzig und älter gewesen war, hatte sich ihr Vater schwergetan, sich an ihr Verhalten zu gewöhnen. Sie schminkte sich, ging allein aus, kam spät nach Hause und legte keines dieser Anzeichen an den Tag, die Monsieur Ladmiral in seiner Jugend für die Anzeichen von Schamhaftigkeit zu halten gelernt hatte. Monsieur Ladmiral hatte darunter gelitten. Schließlich akzeptierte er es, mit einer Kraftanstrengung, deren Preis Irène vielleicht nicht ermessen hatte. Kinder haben schon so viel Mühe, hinzunehmen, was sie bei ihren Eltern schockiert, dass sie nie begreifen, dass ihre Eltern einen noch viel größeren Aufwand mit ihnen haben. Irène war das komplette Gegenteil ihrer Mutter, einer ganz und gar zurückhaltenden Frau, und so viele Widersprüche brachten Monsieur Ladmiral oft in Verlegenheit. Aber als die Mutter tot war, erübrigte sich jede Debatte. Es blieb nur Irène, und ihr schon alter Vater warf seine Einstellungen über den Haufen. Irène nahm den freien Platz ein, und ihr Vater wusste nicht einmal, welche Verleugnungen diese Übertragung nach sich zog. Auf diesem Hintergrund sind die Witwer zu sehen, oft die untröstlichsten, die sich mit irgendjemandem wiederverheiraten. Und solcher Art war der Inzest, den Monsieur Ladmiral beging. Er begriff nie, dass er mit seiner Tochter, weil sie ihn erheiterte und weil sie schön war, an einer Frau rächte, die nie geglänzt hatte und die seit Langem nicht mehr hübsch gewesen war.
    Irène hatte damals sehr wohl verstanden und durchschaut, dass sie, falls sie weiter mit ihrem Vater zusammenlebte, seine Sklavin werden würde. Folglich hatte sie beschlossen, sich von der Familie zurückzuziehen. Leicht war das nicht gewesen. Irène lebte mit ihrem Vater in Paris; Gonzague war seit mehreren Jahren verheiratet. Irène wollte allein sein, nicht so sehr frei als allein. Mit diesen beiden Wörtern kann man über die Töchter urteilen, die

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