Ein Spion in erlauchter Gesellschaft (German Edition)
wenngleich es erwünscht war – nein, notwendig – , so zu denken wie er .
»Also, angenommen, ich wäre Blue Raven, wo in der Bibliothek meines Bruders würde ich das Belastungsmaterial verstecken?«
Es fühlt sich ein bisschen blöd an, laut zu sprechen, dachte sie und ließ den Blick über die Regale schweifen. Besonders der Name. »Blue Raven?«, wiederholte sie, als wollte sie die Worte auf der Zunge schmecken. Ehrlich gesagt, dachte sie weiter, wenn ich Spionin wäre, würde ich mir einen besseren Namen aussuchen. Irgendetwas Bedrohliches. Wie Der Zerstörer . Oder Die Schlange .
Gab es überhaupt einen Vogel namens Blue Raven?
Unwillkürlich glitt ihr Blick zu der Wand, die am weitesten entfernt lag. Dieser Bereich der Bibliothek war der Welt der Natur gewidmet. Dann wurde sie beinahe vom Schlag getroffen.
»Natürlich!«, rief sie, schnappte sich eine Leiter und rollte sie an den Regalen entlang zu der betreffenden Seite des Raumes. Wo sonst wäre das belastende Material über Blue Raven besser zu verstecken als in einem Buch über Vögel?
Sie schob die Leiter so weit, wie die Schienen es erlaubten, und vergrub sich in Titel wie Zoologie: Ein Katalog der Tiere oder Wilde Tiere der Karibik. Natürlich hatte sie keine Ahnung, ob ein Tier wie ein Blue Raven in der Karibik als wild galt, aber vermutlich wohl nicht; falls es überhaupt existierte, dann eher der Heimat näher und irgendwo beim Buchstaben B im Regal.
Also kletterte sie hoch. Weiter die Leiter hinauf, vorbei an den Elefanten: Geschichten und Erinnerungen, vorbei an Kleine Hunde und Große Katzen (in dem einen Buch wurde Bitsy bestimmt erwähnt, und er würde sich vor manchen Seiten des anderen ängstigen), bis sie weit zu ihrer linken Hand mehrere Bände mit dem Titel VÖGEL fand, Band A, Band B und so weiter. Die Bände waren nur geringfügig verstaubt, was dafür sprach, dass sie im letzten Jahr benutzt worden waren. Ungeachtet der Leidenschaft des Lords für den Abschuss von Moorhühnern hegte Phillippa ihre Zweifel daran, dass der Gentleman sich übermäßig dafür interessierte, eine Volière einzurichten.
Sie beugte sich nach vorn und zog das Buch VÖGEL , Band B , aus dem Regal. Es handelte sich um ein dünnes Buch in braunem Leder, das vor ungefähr zwanzig Jahren veröffentlicht worden war. Leider enthielt es keinen Hinweis auf Blue Ravens. Sorgfältig schob sie den Band zurück ins Regal, lehnte sich noch weiter hinüber und angelte mit den Fingern nach VÖGEL , Band R . Angelte … und angelte … hatte es fast geschafft … ihre Fingerspitzen hatten den Buchrücken gerade berührt …
»Warum erwische ich Sie eigentlich immer dabei, dass Sie sich in den Bibliotheken anderer Leute herumtreiben?«
Zu Tode erschrocken drehte Phillippa sich um. Leider balancierte sie dabei so gewagt auf der Leiter, dass der Schrecken den am häufigsten zu erwartenden Effekt der Newton’schen Experimente nach sich zog.
Sie stürzte.
Genau in die ausgebreiteten Arme von Marcus Worth.
»Hallo«, grüßte er fröhlich und verzog den Mund zu einem trockenen Lächeln. »Ich bin’s nur.«
Als Phillippa sich in seine Umarmung schmiegte und ihm in die Augen starrte, gab es zumindest eine Sache, die glasklar war.
Vor ihr lag die größte Herausforderung ihres Lebens – nämlich sich aus dieser Situation herauszureden.
Aber just in dem Moment, als sie den Mund öffnete und das Wort ergreifen wollte, zog irgendetwas in der Ecke ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Nicht nur sie war gefallen. VÖGEL , Band R , lag geöffnet auf dem Boden. Es enthielt keinen Hinweis auf Raben. Auch nicht auf Rotschwänze. Nein, es enthielt überhaupt keine Seiten. Denn der Buchblock war herausgerissen worden. Anstelle der Belehrungen über Vögel gab es nur eine Handvoll Federn.
Rabenfedern.
10
»Ich wusste es.«
Marcus musste eingestehen, dass es ihn verwirrte, den schlanken, wundervollen Körper Phillippa Bennings in seinen Armen zu halten. Es verwirrte ihn sogar so sehr, dass er vorübergehend vergaß, was sie mit solcher Vehemenz zu wissen behauptete.
Aber es fiel ihm recht schnell wieder ein.
Sie hatte die Augen – selbst im dämmrigen Dunkel der Bibliothek leuchteten sie geradezu unglaublich blau – weit aufgerissen und starrte ihn an. Die Winkel ihres Mundes bogen sich langsam nach oben, so als ob sie begeistert, nein, ehrfurchtsvoll auf das blickten, was sich ihnen darbot.
Er löste bei Frauen nur selten Ehrfurcht aus.
Beinahe hätte er das Lächeln
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