Ein Spion in erlauchter Gesellschaft (German Edition)
verstehe ja, dass du diese Geschmacklosigkeiten nicht länger ertragen konntest. Aber warum musstest du deshalb mein Kleid ruinieren?«
Phillippa und Totty hatten sich erfolgreich entschuldigt, um sich auf die Suche nach einem Ort zu machen, an dem sie das Kleid reparieren konnten. Nachdem sie den Salon verlassen hatten, fanden sie schnell ein Zimmer, in das sie sich zurückziehen konnten. Totty holte schnell ihr winziges Kleider-Reparatur-Werkzeug hervor (der Himmel möge Phillippa beistehen, wenn sie das Haus jemals ohne das Werkzeug verließ) und machte sich sofort an die Arbeit.
»Weil die Frage war, dein Kleid oder meins, und ich werde ganz bestimmt nicht mein Kleid zerreißen, Totty. Sei nicht dumm. Kommst du hier zurecht?«
»Natürlich.« Totty konzentrierte sich voll und ganz auf die Näharbeit und schaute just in dem Moment auf, als Phillippas Hand auf dem Türknauf lag. »Phillippa … «
»Ja, Totty?«, erwiderte sie in aller Unschuld.
»Wohin gehst du? Schon zurück in den Salon?«
Phillippa hielt kurz inne und pflanzte sich ihr süßlichstes Lächeln auf die Lippen.
»Ja, Totty.«
Damit schlüpfte sie durch die Tür.
Sie hatte keine Ahnung, wohin sie ging. Es war ja noch nicht einmal Marcus Worths Haus, in dem sie sich aufhielt; es war das Londoner Haus seines Bruders. Marcus bewohnte eine Junggesellenwohnung in der Stadt. Aber als Kind musste er hier Zeit verbracht haben; und es musste irgendwelche Anzeichen geben, dass in seiner Jugend sein künftiges Interesse an Geheimniskrämereien geweckt worden war. Vielleicht ein Buch über Spionagetechniken? Oder ein Tagebuch mit dem Eintrag »Liebes Tagebuch, neuerdings interessiere ich mich brennend für Tricksereien … «
Obwohl das wahrscheinlich hieße, die Hoffnung zu sehr zu strapazieren.
Aber sie musste es wissen. Musste einfach irgendetwas über ihn herausbekommen – genauer gesagt, über die Vermutung, dass er Blue Raven war. Diese Idee hämmerte in ihrem Kopf wie ein Specht an einem Baumstamm. Der Baum ärgerte sich, soweit war alles klar; aber was, wenn sich unter der Rinde ein Käfer verbarg?
Nachdem sie sämtliche Zweifel (und schlechte Metaphern) abgeschüttelt hatte, öffnete Phillippa die erste Tür, an die sie gelangte.
Ihre Durchsuchung musste schließlich irgendwo anfangen, und die Bibliothek schien genauso gut wie jeder andere Ort.
Auf jeden Fall war diese Bibliothek anders als die letzte, in die sie sich während einer Gesellschaft gestohlen hatte, denn sie enthielt tatsächlich Bücher.
Tonnenweise Bücher. Meterweise. Ach was, meilenweise nichts als Bücher. Die Regale erstreckten sich hoch bis an die Decke des Doppelgeschosses. Leitern auf Rollen machten es möglich, bis ans oberste Regal zu gelangen. Auf dem Tisch am breiten Erkerfenster herrschte effiziente Unordnung. Offenkundig gab es jemanden, der genau wusste, wo auf der Mahagonioberfläche sich was befand – und dieser Jemand war ganz bestimmt nicht sie.
Aber es handelte sich um den am wenigsten verstaubten Bereich im ganzen Zimmer, und somit war anzunehmen, dass hier am häufigsten gearbeitet wurde. Ein guter Platz, um mit der Suche zu beginnen.
Mit äußerster Sorgfalt blätterte sie durch die Papiere und Bücher auf dem Schreibtisch. Phillippa erfuhr nur wenig außer der Tatsache, dass Lord Worth eine ungesunde Besessenheit für Fruchtfolge hegte. Es überstieg ihren Horizont, warum ein Mann in London sich über Kohlanbau den Kopf zerbrach, aber darum konnte sie sich jetzt ebenso wenig kümmern wie um sein Investment-Portfolio, welches recht dünn und nicht besonders aufregend zu sein schien. Sie kümmerte sich auch nicht um seine Notizen für den Sekretär und den Diener, in denen er neue Hemden verlangte, oder um den möglichen Erwerb des Gemäldes für den Geburtstag seiner Ehefrau, oder um die detaillierte Liste der kürzlich erschossenen Moorhühner, die ausgestopft werden sollten.
Enttäuscht stellte sie die ursprüngliche Ordnung auf dem Schreibtisch wieder her. Es war ganz sicher keine Hilfe, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wonach sie eigentlich suchen sollte: nach etwas Belastendem, zum Beispiel nach einer Mitteilung? Nach einem Brief vom Kriegsamt? Nach einer Belobigungsmedaille? Nach einer …
»Oh, ich schlage die vollkommen falsche Richtung ein!«, wisperte Phillippa in das blassblaue Licht des leeren Zimmers hinein. Aber schließlich hatte sie sich auch blind auf die Suche gemacht, hoffte einfach, etwas zu finden, irgendetwas,
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