Ein Spion in erlauchter Gesellschaft (German Edition)
hatte; der Krieg hatte ihm sehr zu schaffen gemacht. Aber richtig war auch, dass das für andere in noch viel stärkerem Maße galt als für ihn. Er war zu sehr daran gewöhnt, misstrauisch zu sein ( und das hatte ihn in der Vergangenheit schon oft in Verlegenheit gebracht ) und konnte nicht umhin, sich einzugestehen, dass dieser Umstand sein Urteil beeinflussen konnte.
Trotzdem, sein Bauchgefühl verriet ihm, dass er diesmal richtig lag.
Marcus bebte vor Zorn, als er Whitehall verließ und überlegte, welche Möglichkeiten ihm jetzt noch blieben. Er konnte nur noch wenigen Menschen vertrauen, und die Ressourcen, auf die er zurückgreifen konnte, waren noch spärlicher. Der Schreibtisch passte nicht mehr zu ihm. Vielleicht stimmte es sogar, dass er niemals zu ihm gepasst hatte.
Es hatte zu regnen angefangen, ein sanftes Nieseln, das London in Grau hüllte. Die Menschen auf der Straße duckten sich tiefer in ihre Übermäntel, hockten wie in Bündel verpackt unter zerbrechlichen Schirmen, die eigentlich für Sonnenschein gedacht waren, aber plötzlich ihre Standfestigkeit beweisen mussten. Passanten versammelten sich unter den Dachtraufen und warteten darauf, dass diese kleine Unannehmlichkeit vorüberging. Plötzlich wurde aus dem weichen grauen Nieselregen ein sintflutartiger Guss, sodass die Menschen sich in Gebäude flüchteten oder auf die Straße auswichen, um eine Kutsche anzuhalten und doch keine fanden.
Marcus ließ den Regen auf sich prasseln, ließ es zu, dass er ihm den Kopf freispülte. Da Johnny Dicks tot war, konnte Marcus auch nicht mehr den Mann ausfindig machen, von dem Dicks die Liste gestohlen hatte. Dicks’ Freund war ebenfalls verschwunden, höchstwahrscheinlich war auch er tot. Ohne Fieldstones Vertrauen und Unterstützung konnte er nicht gegen jemanden aus seiner Abteilung ermitteln. Aus seiner ehemaligen Abteilung, genauer gesagt.
Er musste Fieldstone einen Beweis bringen, wenn der ihm zuhören sollte.
Marcus erwog, sich an seinen Bruder zu wenden, verwarf die Idee aber sofort wieder. Es würde ihm den Verstand rauben, wenn er erfuhr, dass diese ganze verdammte Geschichte mit Blue Raven wieder von vorn anfing. Am besten war es, so wenig Leute wie möglich in Gefahr zu bringen.
Plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Sinn. Die Erinnerung an einen schlanken Körper, der sich auf verlockende Weise an ihn schmiegte. Engelsgleich glänzendes Haar, das im Mondlicht golden schimmerte. Üppige Lippen, die sich teilten und ihm einen Handel mit dem Teufel anboten.
Marcus schüttelte den Kopf. Er wäre verdammt, wenn er Phillippa Benning beim Wort nähme und sich auf ihren verrückten Vorschlag einließe. Er würde sich der peinlichsten Überprüfung aussetzen, ganz zu schweigen davon, dass er sie in eine Situation bringen würde, die sehr viel gefährlicher war, als dieser flatterhafte Schmetterling der Gesellschaft es sich in seinen kühnsten Träumen vorstellen konnte. Nein, er konnte nicht darauf hoffen, dass sie die Gefahren ernst nehmen würde. Wenn er Phillippa Benning mit den Einzelheiten dessen, was er vermutete, vertraut machte, würde sie bestimmt beim Tee munter darüber plaudern, so als handelte es sich um ihren neuesten Lieblingsroman, um sich gleich darauf eine neue Haube zu kaufen.
Aber was noch schlimmer wäre: Sie hatte keine Ahnung vom Geschäft. Sie könnte verletzt werden.
Nein, dachte Marcus und lief weiter durch den Regen, ich muss einen anderen Weg finden. Ins East End zurückkehren und versuchen, Johnny Dicks’ letzte Tage zu rekonstruieren. Herausfinden, ob irgendjemand aus der Sicherheitsabteilung oder ein Franzose seinen Weg gekreuzt haben.
Das Gespenst.
Dicks hatte ihm berichtet, dass der Franzose, als er aus dem Bull and Whisker kam, irgendetwas über eine Taube gesagt hatte. Für ihn war das wie ein Eimer kaltes Wasser ins Gesicht gewesen.
Der sintflutartige Regen hörte so plötzlich auf, wie er gekommen war. Die Wolken rissen auf, und die Sonne schien auf das nasse Kopfsteinpflaster, sodass die Stadt wie frisch geschrubbt und sauber aussah. Marcus bog um die Ecke, überschritt die unsichtbare Grenze nach Mayfair und war sofort von der Welt der Mode und Eleganz umgeben, in der Phillippa Benning lebte. Die Welt, die sich zu solchen gesellschaftlichen Ereignissen versammelte wie denen auf der Liste.
Marcus erinnerte sich, dass bis zu dem ersten Ereignis, dem Bankett bei den Whitfords, nur noch vier Tage Zeit blieben.
Er würde Johnny Dicks’ Spuren
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