Ein Stiefel voll Glück - Oskar und Mathilda ; 1
Serviettendecke vom Tisch, knüllte sie zusammen und tupfte damit über seine Wangen. »Du musst nicht mehr weinen«, sagte sie. »Dein Vater hat sich endlich gemeldet. Er hat uns geschrieben. Meinen Brief habe ich hier …« Sie zog ein zusammengefaltetes liniertes Blatt aus der Knopfleiste ihrer Bluse, dort, wo ihr Herz war. »Und deiner liegt drinnen auf dem Bett neben dem Bären.«
Oskar starrte sie an. Dann riss er sich los und stürzte ins Gartenhaus, hechtete durch die Wohnküche und flog mit einem einzigen langen Satz durch die Schlafzimmertür und landete bäuchlings auf dem Bett.
Sein
Brief war in einem grünen Umschlag. Vorsichtig pulte Oskar ihn auf. Er fand ein ebenso grünes Blatt darin, faltete es auseinander und las.
Mein lieber Oskar
,
ich schreibe Dir auf grünem Papier, weil Grün die Hoffnung ist
.
Ich hoffe nämlich, dass Du ein bisschen verstehst von dem, was ich Dir heute schreibe. Ich hoffe es nicht meinetwegen, sondern deinetwegen
.
Ich weiß, dass es gemein war, einfach wegzugehen, ohne Mama und vor allem ohne Dir etwas zu sagen. In dem Augenblick, als ich es tat, wusste ich aber keinen anderen Ausweg. Und erst viel, viel später wurde mir klar, dass Ihr Euch wahrscheinlich schreckliche Sorgen macht und dass Du wahnsinnig enttäuscht und traurig bist (Mama natürlich auch). Es hört sich bestimmt ziemlich verrückt an, aber ich dachte die ganze Zeit, dass ich eine Belastung für Euch bin und Ihr sehr froh und erleichtert sein müsst, wenn ich einfach aus Eurem Leben verschwinde. Es ging mir nämlich nicht gut. Ehrlich gesagt, ging es mir sogar ziemlich mies. Meine Gefühle und Gedanken flatterten kreuz und quer durch meinen Kopf, sie haben mir manchmal so viel Angst gemacht, dass ich dachte, ich müsste jeden Moment durchdrehen. Und das bin ich dann ja auch
.
Zum Glück habe ich Menschen gefunden, die mir helfen können. Ich wohne jetzt in einem schönen großen Haus, in dem ich mich sicher fühlen kann. Es ist so etwas wie ein Krankenhaus für die Seele
.
Wenn Du willst, kannst Du mir hierher schreiben. Die Adresse ist: Auszeit, Manfred Habermick, Am Hang 48, Ch-2745 Latern
.
Lieber Oskar, bitte glaube mir: Es liegt ganz bestimmt nicht an Dir (und auch nicht an Mama), dass ich weggegangen bin!!!
Papa
Oskar starrte auf die Zeilen und fühlte sich so klamm wie ein Waschlappen, der einsam an einem rostigen Haken in einem eiskalten Badezimmer hing. Sein Vater schrieb, dass er hoffe,Oskar werde ihn verstehen. Aber Oskar verstand gar nichts. Sein Kopf brummte von den vielen Sätzen und das Herz tat ihm weh.
Denn er hatte auch gehofft. Und zwar, dass er andere Sätze lesen würde. Dass seine Mutter komplett danebenlag, als sie sagte, dass Papa vielleicht sehr lange nicht wiederkam. Dass er nämlich in Wahrheit bereits auf dem Weg zu ihnen war und jeden Moment in Opa Heinrichens Garten spaziert käme, wenn Oskar ihm nur ein Zeichen gab.
Aber von alldem stand nichts in diesem schrecklichen Brief mit dieser schrecklich krakeligen Schrift, die ganz anders aussah als sonst und deshalb auch nichts mit seinem Vater zu tun haben konnte.
Warum war er nicht einfach in die alte Wohnung gekommen und hatte den Zettel an der Lampe gefunden?
Wieso schickte er seine Briefe aus der
Auszeit
direkt an Opa Heinrichens Adresse? Er konnte doch gar nicht wissen, dass sie umgezogen waren!
»Bestimmt wunderst du dich, dass Papa unsere neue Anschrift kennt«, sagte seine Mutter leise hinter ihm. Am Fußende wogte die Matratze nach unten und Oskar spürte eine warme Hand auf seiner Wade. »Tut er nämlich gar nicht. Seine Briefe sind nur deshalb hier angekommen, weil ich einen Nachsendeantrag gestellt habe.«
»Ach so«, sagte Oskar. Normalerweise wären sie also schon viel früher im Briefkasten ihrer alten Wohnung gewesen.Vielleicht sogar genau am Freitag, kurz bevor sie ausgezogen waren. Bei dem Gedanken wurde Oskar ganz komisch im Bauch.
»Jetzt glauben wir einfach mal fest daran, dass Papa wieder gesund wird«, sagte Henriette Habermick.
Oskar drehte sich um und sah seine Mutter verwundert an. »Er ist also krank?«
»Ja … Hat er dir denn nicht erklärt, was mit ihm ist?«, fragte sie vorsichtig.
»Doch«, sagte Oskar. »Schon. Es ist nur …«
»… schwer zu verstehen?« Henriette Habermick nickte und seufzte. »Mir geht es da genauso wie dir. Aber weißt du, Oskarchen, das hilft uns jetzt nicht weiter. Ich bin einfach nur heilfroh, dass Papa sich überhaupt gemeldet hat.«
Als Mathilda
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