Ein Strandkorb für Oma
wie ein Fremder. Mein Onkel hat bisher seine Freak-Frisur auch durchgehalten, als die Haare merklich dünner wurden; für einen kläglichen Pferdeschwanz reichte es noch. Nun steht er mit stoppelkurzen blonden Borsten vor uns, die sich kaum von den nackten, braun gebrannten Hautflächen auf seinem Kopf abheben.
«Was ist passiert?», frage ich schockiert.
Er begrüßt mich und Jade mit coolem Handschlag. Dann umarmt er uns herzlich, auch Jade, was die ohne Kommentar geschehen lässt. Irgendetwas scheint sich bei ihr gelöst zu haben.
Arne erzählt, dass er diese Party deswegen veranstaltet, weil er beim Friseur gewesen sei und dies eine historische Zäsur darstelle, ab jetzt beginne für ihn ein neuer Lebensabschnitt. Was genau er damit meint, führt er nicht aus. Ich frage nicht nach. Arne hat in dem Jahr, das ich auf Föhr lebe, an die zehn neue Lebensabschnitte begonnen. Den bunten Partyhimmel überm Wattenmeer sieht er als göttlichen Segen für einen Neuanfang; als geborener Insulaner hätte er allerdings auch im strömenden Regen gefeiert.
Unsere Familie ist vollzählig erschienen: Meine fast gleichaltrige Cousine Regina trägt neuerdings schulterlange blonde Locken und knallenge weiße Jeans, die ihre Schlankheit betonen sollen. Sie hat bestimmt zwanzig Kilo abgenommen, seit sie keinen Alkohol mehr trinkt und strenge Diät hält. Leider nervt nun ihr penetranter Missionsanspruch: Man kann in ihrer Gegenwart keine Currywurst mehr essen, ohne sich einen Vortrag über tierische Fette anzuhören. Ihr Mann Holger, der bei der Stackmeisterei für die Bojen rund um die Insel zuständig ist, sitzt auf einem Klappstuhl und raucht Pfeife, ihr übergewichtiger vierzehnjähriger Sohn John versucht vergeblich ein spitteldünnes gleichaltriges Mädchen anzubaggern, indem er es vollquatscht. Mit Jade redet er übrigens kein Wort; die löst mit ihrem Aufzug offenbar ernsthafte Angst bei ihm aus.
Oma ist natürlich auch da. Keine Spur von Müdigkeit, im Gegenteil. Sie tanzt sich in Trance wie eine Hippiebraut und schleudert theatralisch ihre Arme in die Luft, wie damals im Independent-Club. Ich denke, sie bewegt sich so wild, um ihre Müdigkeit zu bekämpfen. Auf ihr T-Shirt hat sie das Oberteil der traditionellen Friesentracht drucken lassen, dazu trägt sie eine enge türkisfarbene Leinenhose. Jade begutachtet Omas filigranes Brustamulett aus Silber, das sie sich übers T-Shirt gehängt hat, es gehört zur Originaltracht. Der Schmuck besteht aus zehn bis zwölf Knöpfen sowie einer mehrgliedrigen Hakenkette mit den traditionellen Symbolen Kreuz, Herz und Anker.
«Genau das war doch auch auf dem Grab von Brar und Antje Riewerts, oder?», fragt Jade.
Oma zieht ihre rechte Augenbraue hoch.
«Was soll das heißen?», tadelt sie Jade sanft und kneift sie in die Wange. «Dass ich ins Grab gehöre?»
Jade ist ganz erschrocken. «Das wollte ich damit nicht sagen.»
«Lass man, mien Deern, ich habe den Text für meinen Grabstein schon fertig», klärt Oma sie auf.
Das ist mir neu. «Nicht im Ernst», hake ich nach.
«Bevor meine Familie irgendeinen Mist schreibt, mache ich es lieber selber», erklärt Oma entschlossen. Sie ist eben sehr eigen.
«Lass mal hören – oder soll es eine Überraschung werden?»
Oma zögert keinen Moment, sie streckt ihren schlanken Hals und hebt ihren rechten Arm mit ausgestrecktem Zeigefinger hoch in die Luft:
«Imke Riewerts,
geb. 22. 7. 1934, gestorben 22. 7. 2054
wurde dank der Apparatemedizin
plus ein bisschen Homöopathie
gesunde 120 Jahre alt.
Sie hatte einen Mann auf Föhr, mit dem sie vier wunderbare Kinder aufzog, und einen Geliebten auf Amrum.
Hier ruhen meine Gebeine – ich wollt’, es wären deine!»
Ich kenne meine Oma so gut, dass ich weiß: Sie meint das vollkommen ernst. Sollte dieser Text in einen großen Feldstein eingemeißelt auf dem Friedhof von St. Laurentii abgeliefert werden, gibt es zwei Möglichkeiten: entweder wird er vom Pastor verboten oder auf einer Postkarte gedruckt.
Als Momme kommt und auffällig-unauffällig nach Jade sucht, ist ihr Glück perfekt. Jade setzt sich neben ihn mit dem Rücken zur See und blickt amüsiert auf ihre tanzende Familie. Natürlich spielt ihr Onkel Arne die falsche Musik, und richtig wohl fühlt sie sich nur unter anderen schwarzen Romantikern. Trotzdem sieht sie nicht ernsthaft unzufrieden aus.
Ich ziehe mich auf eine Düne zurück, auf der ich mich lang mache und in den Bonbon-Himmel schaue, auch wenn das
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