Ein Stueck meines Herzens
gut.«
»Willst du sie hören?«
»Natürlich.«
Er richtete sich auf und legte seinen Kopf an das unsichtbare Fenster. »Ich bin einmal, als ich siebzehn war, mit Edgar Boynton auf der anderen Seite von Edwards, Mississippi, in einem Maisfeld, das er kannte, auf Kaninchenjagd gegangen. Wir waren schon ungefähr eine Stunde draußen, hatten kein einziges Kaninchen gesehen, und ich bin dann auf eigene Faust herumgelaufen und hinter einem Heckenzaun heruntergegangen und einfach weitergelaufen, bis ich jemanden schießen hörte. Und in dem Augenblick, als ich es hörte, bin ich zurückgerannt, um den Heckenzaun herum und dorthin, wo Edgar war. Er stand da und blickte auf etwas, das ich erst sehen konnte, als ich dicht bei ihm war. Er sagte überhaupt nichts, stand bloß da und gaffte. Und als ich endlich bei ihm angekommen war, schaute ich ins Gras hinunter, und da war eine große Schleiereule, die sich in den Mais hineindrückte und mich und Edgar aus ihrem großen herzförmigen Gesicht anstarrte, mit einer entsetzlichen Angst in den Augen und entblößten Krallen und geöffnetem Schnabel, als wollte sie uns gleich in Stücke reißen. Und Edgar sagte kein einziges Wort, er starrte einfach die Eule an, als ob sie ihn in ihren Bann gezogen hätte, obwohl er einen ihrer Flügel abgeschossen hatte. Der lag auf dem Boden zwischen uns und ihr, ganz weiß am Ansatz und ohne daß irgendwo Blut zu sehen war. Und sie hatte so einen schrecklichen Blick, ich habe sie bloß angestarrt und konnte meine Augen nicht von ihr abwenden. Es jagte mir furchtbare Angst ein und zog mich gleichzeitig an. Und ich konnte mich überhaupt nicht rühren. Und genau in dem Augenblick kam Edgars Hund herangeschnüffelt, sah die Eule und machte einen Satz auf sie zu. Edgar packte ihn am Ohr und zerrte ihn zurück, weil die Eule den Hund getötet hätte, wenn er ihn nicht zurückgehalten hätte, mit oder ohne Flügel. Und ich konnte nichts tun, ich war wie vom Donner gerührt. Der Hund bellte, und Edgar brüllte ihn an, schüttelte ihn, und die Eule begann, sich im Mais ein paar Zentimeter zurückzuschieben, und ihre Augen wurden groß und dunkel, als ob sie sich für einen letzten Ausbruch sammelte. Und auf einmal schoß ihr Edgar mit seiner Schrotflinte mitten ins Gesicht, und die Eule war weg, oder zumindest alles, was einen hätte glauben lassen, daß da eine Eule gewesen war, sie löste sich einfach innerhalb von einer halben Sekunde auf und hinterließ eine Riesenschweinerei von Blut und Federn, alles verfilzt und in einem Klumpen zusammengeklebt. Und ich bin wohl einfach irgendwie ohnmächtig geworden, glaube ich, denn in einem Augenblick sah ich die Eule und im nächsten schon, da unten vor mir, etwas völlig anderes. Keiner von uns beiden wußte, was kommen würde, bis es vorüber war, weil Edgar hinter mir stand und ziemlichen Ärger mit dem Hund hatte und sicher dachte, daß die Eule ganz leicht wegzuputzen wäre, weil er ihr schon den Flügel abgeschossen hatte und es einfach hoffnungslos war. Aber für mich ist das alles viel zu schnell passiert, und ich glaube, ich bin ohnmächtig geworden, obwohl ich nicht hingefallen bin. Er hat sie einfach ausgelöscht. Die Eule verlor alles in einem Augenblick.«
Er rutschte unter das Fenster.
»Das ist eine furchtbare Geschichte«, sagte sie schlecht gelaunt. »Hättest du sie mir bloß nicht erzählt! Sie ergibt überhaupt keinen Sinn.«
»Das ist doch egal«, sagte er.
Sie kletterte hinaus auf den nackten Fußboden.
»Aber du verstehst sie doch, oder?« fragte er.
»Natürlich. Aber ich bin nicht mehr dafür verantwortlich. Und du auch nicht.«
Sie trat für einen Augenblick hinaus ins Mondlicht und verschwand.
5
Aus dem Doppelfenster sah er, wie Dunst zum höckerigen Mond aufstieg und den Himmel über Illinois mit den weichen Nebelfetzen aus den Maisebenen überflutete, sich nach Osten ausbreitete, den Regen ins Wabash-Tal hinübertrieb und den Himmel klar und starr vor Kälte zurückließ.
Um halb fünf erwachte er im Dunkeln. Der Zug fuhr auf eine lange Eisenbahnbrücke. Die Pfähle dröhnten zwischen ihm und der Ferne. Er konnte die malvenfarbenen Nebel über dem Fluß aufsteigen sehen, die sich wie das Gespenst des Flusses in der Finsternis wanden. Alles übrige lag im Dunkeln.
Er hatte auf dem Bett gesessen und zugesehen, wie sie ihre Uniform anzog.
»Ich hätte’s leichter, wenn das Licht an wäre«, sagte sie und tastete in ihrem Reisekoffer herum.
»Im Dunkeln gefällst du
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