Ein Sturer Hund
nach vierundvierzig Sekunden vorgewiesen hatte. Und so fort.
Was Cheng zufälligerweise recht genau wußte, war der Umstand, daß man in vierundvierzig Sekunden genau einmal die Laufbahn eines Sportstadions umrunden, also vierhundert Meter zurücklegen konnte, vorausgesetzt, man war breitbrüstig und langbeinig und hieß Michael Johnson. Johnson und der Aufzug des Stuttgarter Fernsehturms nutzten ihre vierundvierzig Sekunden, um genau die Strecke zu bewältigen, die nötig war, ein vernünftiges Ziel zu erreichen. Denn das Ende eines Turms und das Ende einer Stadionrunde waren nun mal vernünftig zu nennen. In beinahe allen anderen Fällen waren die vierundvierzig Sekunden ja bloß Ausschnitte ohne richtigen Anfang oder richtiges Ende. Oder sie waren viel zu lange, boten viel zuviel Platz in der Zeit, um ein Geschehen einzurahmen. Wer wie Robert Musil einem zügig wirkenden Hirnschlag erliegt, braucht keine vierundvierzig Sekunden, um zu sterben. Und jener berühmte Pariser Ast, welcher Ödön von Horváth erschlug, benötigte keine vierundvierzig Sekunden, um von seinem angestammten Platz auf den österreichischen Dichter niederzustürzen. Überhaupt kam Markus Cheng während seiner Fahrt der Gedanke, daß vierundvierzig Sekunden bei aller Kürze eine Zeitspanne darstellten, in der eine Menge Dinge wie in einer von diesen viel zu großen, ausgeleierten Badehosen schwammen. Und das hatte nun nichts mit der vielzitierten Relativität von allem und jedem zu tun, sondern damit, daß ein eigens definierter Zeitraum – somit ein aus der Zeit herausgerissener – ungleich voluminösere Ausmaße besaß als ein latent vorhandener.
Irgendwelche vierundvierzig Sekunden waren kurz. Man konnte kaum etwas darin unterbringen, also nicht einmal die Zubereitung eines halbwegs durchgekochten Eies. Man stelle sich ein Vierundvierzig-Sekunden-Ei vor. Schrecklich! Doch wenn man diesen Zeitrahmen als die Spanne annahm, in der man einem lieben Menschen etwas Nettes sagen durfte, nur diesem einen Menschen und nur etwas Liebes, dann konnten vierundvierzig Sekunden sich zur kleinen Ewigkeit dehnen.
Noch selten zuvor war Cheng ein derart kurzer Zeitraum so lange erschienen wie diese Fahrt im Aufzug. Es war nicht so, daß sein Leben wie ein rascher Film an ihm vorbeizog, aber er bekam ein Gefühl dafür, wie es war, eine stark beschleunigte Gedankenkette zu entwickeln. In diesen vierundvierzig Sekunden produzierte sein Gehirn eine Folge von Überlegungen, deren Masse üblicherweise kaum in eine ganze Stunde gepaßt hätte. Seine Gedanken hyperventilierten, entwickelten nach oben hin eine immer größere Rasanz und mündeten schließlich in einem einzigen, kleinen Punkt absoluter Gedankenlosigkeit, der seinen weltlichen Ausdruck in dem klingelnden Geräusch fand, mit welchem die beiden Aufzugstüren auseinanderglitten. Dingdong.
Obgleich zwischen Aufzug und Plattform ein kleiner, offener Vorraum lag, wehte sofort ein heftiger, kalter Wind den Männern entgegen.
»Wollen Sie wirklich?« fragte der Liftführer und kroch tiefer in sein graues Jackett.
Wortlos bewegten sich die drei Männer ins Freie. Rasch schloß sich hinter ihnen der Fahrstuhl. Gegen den Sturm gestemmt, traten sie an das Gitter, welches von der Brüstung aufragte. Durch die Stäbe hindurch blickten sie auf eine Stadt, die entgegen ihrer hügeligen Anlage vom Schnee wie plattgetreten wirkte. Von einem Horizont war nichts zu sehen. Allerdings war die Himmelsdecke an einer Stelle aufgerissen, was einen künstlichen, einen aufgepflügten Eindruck hinterließ. Darüber leuchtete ein kräftiges Blau. Das durchdringende Sonnenlicht legte einen hellen, länglichen Streifen über einen kleinen Teil der Stadt. Nur kurz, dann schloß sich die Lücke, als habe jemand seinen zerteilenden Finger wieder herausgezogen.
Wenngleich sie nicht der Aussicht wegen gekommen waren und auch nicht viel mehr als ein weißlichgrauer Brei zu sehen war, stiegen die drei Männer die wenigen Stufen zur zweiten, kleineren Plattform hinauf, wo sie eine Runde um den Betonschaft drehten. Das gehörte einfach dazu, wenn man schon mal hier oben war. Der eisige Wind nagelte ihre Gesichter. Cheng wandte dem Sturm seinen Rücken zu und preßte seinen Körper gegen die vollgekritzelte Wand. Dann sah er nach oben und ließ seinen Blick über die Gitterkonstruktion des Sendemastes hinaufgleiten, bis zu dem Punkt, da gewissermaßen die Technik endete und die Natur anfing. Man könnte auch sagen, daß mit der Spitze
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