Ein Sturer Hund
sich kein Problem. Doch die Art seines Todes, der Umstand, daß der losgetrennte Schädel im Aquarium gelandet war, stieg nun schmerzhaft überdeutlich in Mortensens Erinnerung auf.
Auch wurde ihm jetzt bewußt, daß er nicht nur als Zeuge in diese blutige Geschichte eingegangen war, sondern sich in der Folge auch noch verdächtig gemacht hatte. Und sich also gar nicht zu wundern brauchte, wenn demnächst ein Phantombild in den Zeitungen abgedruckt würde, anhand dessen ihn ein jeder, der ihn auch nur oberflächlich kannte, würde identifizieren können. Er fand dies alles überaus deprimierend. Er spürte jetzt seine Knochen, hustete. So, als sei ihm endlich eingefallen, daß man sich nach einer solchen Nacht einfach nicht gesund und kräftig fühlen durfte. Ganz im Gegenteil.
Er gab dieser Einsicht nach, schluckte ein Aspirin, nahm eine neue Flasche Johannisbeergeist vom Regal und zog sich auf seine Liegestatt zurück. Üblicherweise trank er nicht vor dem Abend. Nun, üblicherweise verbrachte er seine Vormittage auch nicht im Bett. Nachdem er einen Schluck genommen hatte, zog er sich die Decke über den Kopf und überlegte, warum die Frau, die er für sich, des Mantels wegen, die Sandfarbene nannte, warum also die Sandfarbene Thomas Marlock auf diese Weise verstümmelt hatte. Denn allein darin bestand für Moritz Mortensen das Unglaubliche.
Daß ein Mensch einen anderen ermordete, fand er nicht weiter ungewöhnlich. Nach seiner Anschauung war dazu ein jeder in der Lage. Ein jeder, der genügend Wut mit sich herumschleppte (also genügend »Dialekt«) und im richtigen Moment über die Kraft oder die Waffe verfügte. Daß eine Person jedoch fähig war, den gesamten Hals seines Opfers zu durchtrennen, blieb Mortensen ein Rätsel. Vor allem, da die Sandfarbene keineswegs den Eindruck vermittelt hatte, vor lauter Raserei den Verstand verloren zu haben. Viel eher war sie, wenn seine Erinnerung stimmte, auf eine ruhige, überlegene und überlegende Weise durch das Zimmer des Ermordeten stolziert.
Über die Sandfarbene und ihre Gründe spekulierend, schlief Mortensen bald wieder ein. Bis zum Abend hin war er in eine Mischung aus Träumen und kurzen Augenblicken halbwachen Phantasierens eingesponnen. Mitunter setzte er wie automatisch die Flasche an und nahm einen Schluck der klaren, geistvollen Flüssigkeit. Es war gegen halb neun Uhr, als ihn das Läuten der Türglocke vollständig aus seiner Versunkenheit herausholte.
Doch erst, da das Klingelgeräusch durch ein heftiger werdendes Klopfen ersetzt wurde, stieg er von seiner Couch, ordnete die Teile des Bademantels, nahm die Kapuze vom Kopf und drehte das Licht einer Tischlampe an, deren Knopf er problemlos in der Dunkelheit geortet hatte. Er spürte seine Betrunkenheit bloß als eine Schwere in den Beinen, nicht viel anders, als hätte er einen längeren Marsch hinter sich gebracht. Aber das war natürlich ein Irrtum. Im Stehen erwies sich dieselbe Welt als ungleich komplizierter. Es kostete ihn einige Mühe, in den Vorraum zu gelangen und an die Wohnungstür zu treten. Endlich blickte er durch den Spion und erkannte nichts anderes als einen dunklen Flecken am unteren Rand des verzerrten Ausschnitts. Ein Gesicht konnte er nicht wahrnehmen. Dafür war die Person, die vor der Tür stand, zu klein. Oder hatte sich klein gemacht.
»Wer ist da draußen?« fragte Mortensen und trat zur Seite, als erwarte er ein Durchsieben der Türe.
Stattdessen meldete sich eine Stimme, die so ältlich wie fest und bestimmt klang: »Hier ist Frau von Wiesensteig. Machen Sie endlich auf, Mortensen. Was soll das Theater?«
»Meine Güte«, stöhnte Mortensen leise, schob den Sicherheitsbalken zur Seite und öffnete die Türe. Im Gang stand eine etwa achtzigjährige Person, ein echtes Fräulein, nicht im Sinn einer unverheirateten Jungfer, sondern im Sinn einer überaus resoluten Person. Auch war der Begriff des Fräuleins in seiner ursprünglichen Bedeutung zu verstehen, als eine Verkleinerung von Herrin . Eine Herrin war diese Dame in jedem Fall. Ein Fräulein und eine Herrin. Das sah man sofort. So klein sie auch war, kaum größer als eine durchschnittliche Zwölfjährige, spürte man ihre Mächtigkeit. Spürte, wie sehr sie sich Respekt zu verschaffen verstand. Und zwar keineswegs mittels aristokratischer Herablassung. Denn auch wenn sie auf das von bestand, wie man etwa darauf besteht, selbst im feinsten Lokal Brotstücke in die Suppe zu tunken, so hätte sie nie den Unsinn einer
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