Ein Sturer Hund
recht unnachgiebig sein. Er ist ja nicht nur Alchimist, sondern auch der Typ des Buchhalters. Buchhalter sind Menschen, die sich immer im Recht glauben.«
Der Buchhalter als Alchimist als Barkeeper kam wieder zurück und legte einen viereckigen Bierdeckel vor Cheng auf die Thekenfläche. Darauf war die Bleistiftzeichnung eines Gesichts zu sehen. Es handelte sich deutlich um die Visage Thomas Marlocks. Auch Cheng, der Marlock ja nur von einigen Zeitungsfotos her kannte, die er am Nachmittag dieses Tages studiert hatte, war ohne Zweifel, wen diese Zeichnung darstellte. So wenig, wie er daran zweifelte, hier ein kleines Kunstwerk vor sich zu haben. Klein bloß in bezug auf das Format.
Über der Abbildung eines gefüllten Bierglases, das von Buchstaben umrahmt war, die den Namen des Bieres sowie einen Werbespruch ergaben, war mit kräftigen Strichen nicht nur das treffende Porträt Thomas Marlocks entstanden, sondern der Untergrund war in diese Graphik eingearbeitet worden. Und zwar so, daß die Buchstaben und das abgebildete Bierglas nicht mehr störend wirkten, sondern ganz im Gegenteil, als das tragende Element des Gesichts fungierten, quasi wie ein inneres Gerüst, das diesen ganzen Kopf zusammenhielt, ihm eine Struktur verlieh. Die Zeichnung selbst war eine saubere, gediegene, jedoch konventionell-naturalistische Arbeit. Erst durch die zielgenaue Einarbeitung des Aufdrucks auf dem Deckel entwickelte die Darstellung ihren großen Reiz, ihr künstlerisches Moment. Man hätte tatsächlich sagen können, das Bild mute wie der Beweis dafür an, daß sich dieses menschliche Antlitz ursprünglich aus einem Bierglas, einer Schaumkrone und den dieses Glas und diese Schaumkrone umgebenden Lettern heraus entwickelt habe.
»Eine originelle Arbeit, das muß man sagen«, bekannte Cheng.
»Allerdings«, bestätigte Crivelli, und einen Augenblick war zu spüren, wie sehr er an diesem Kleinod hing.
Cheng bat Crivelli um eine Erklärung. Der Barkeeper zögerte, dann sagte er: »Nachdem die Frau gegangen war, fand ich diesen Bierdeckel. Genau an der Stelle, an der sie gesessen hat. Die Zeichnung stammt von ihr. Da gibt es keinen Zweifel.«
»Soll das heißen, Sie haben den Karton einfach behalten?«
»Warum denn nicht? Es war, als hätte sie ihn wie ein Trinkgeld zurückgelassen. Zudem gehört es nicht zu meinen Aufgaben, meinen Gästen ihre beschrifteten und bemalten Bierdeckel nachzutragen.«
»Natürlich nicht«, bestätigte Cheng. »Aber nach dem Tod Marlocks mußte Ihnen diese Zeichnung doch unheimlich vorkommen.«
»Es ist das Wesen der Kunst, unheimlich zu sein.«
»Also gut. Aber sagen Sie nicht, Sie hätten sich keine Gedanken gemacht. Ich rede von einem Verdacht wegen …«
»Einem Verdacht nachzugehen, das fällt fraglos in Ihr Ressort, Herr Cheng. Ich habe diese Zeichnung an mich genommen, weil ich sie für gelungen hielt. Für äußerst gelungen. Was dahintersteckt, kümmert mich nicht. Wenn ich Rembrandts ›Die Anatomiestunde des Professor Tulp‹ betrachte, interessiert es mich ja auch nicht, ob dieser Tulp ein guter oder ein schlechter Pathologe gewesen ist.«
»Sie haben der Polizei also nichts von der Zeichnung erzählt?«
»Dafür sah ich keinen Grund. Es ist nicht ungewöhnlich, daß jemand seine Mitmenschen porträtiert. Und daß einer von diesen Mitmenschen wenig später ums Leben kommt, ist ebensowenig ungewöhnlich.«
»So kann man es sehen. Zumindest von Ihrem Standpunkt aus. Ich habe eine Bitte, Herr Crivelli.«
»Und zwar?«
»Können Sie mir die Zeichnung für ein paar Tage überlassen?«
»Warum sollte ich das tun?«
»Weil Sie mir vertrauen.«
»Meinen Sie wirklich? Ich weiß nicht, ob ich einem Mann vertrauen kann, der mir eine unpräzise Rechnung gestellt hat.«
»Ich flehe Sie an, fangen Sie nicht wieder damit an. Man kann die Sache so oder so sehen. Und denken Sie daran, wie rasch ich nachgegeben habe. Des lieben Friedens willen.«
»Sie waren ganz einfach im Unrecht. Das ist ein Faktum.«
Cheng verdrehte die Augen. Dann fragte er: »Also, was ist? Geben Sie mir Marlocks Porträt oder nicht?«
Mit einer höchst sparsamen Bewegung eines einzigen Fingers schob Crivelli den Bierdeckel näher an Cheng heran. Dann wies er, indem er seinen Kopf leicht anhob und seine Nase gewissermaßen streckte, in Richtung auf Mortensen und sagte: » Der war an diesem Abend auch hier. Vielleicht, Herr Cheng, sollten Sie ihn mal genauer unter die Lupe nehmen, Ihren Freund.«
»Werde ich«,
Weitere Kostenlose Bücher