Ein Sturer Hund
Mortensen, »daß, wenn ich, anstatt den Kranken zu spielen, mit meiner Frau in dieses Flugzeug gestiegen wäre, es auch keinen Absturz gegeben hätte. Das mag unsinnig klingen. Aber dieser Unsinn taucht immer wieder in meinem Kopf auf. Ich komme nicht weg von der Vorstellung, eine ganze Menge von Menschen in den Tod befördert zu haben, nur um ein glücklicher Witwer zu werden.«
Cheng verzichtete darauf, gegen den »Unsinn« zu protestieren, sondern riet: »Probieren Sie Ihren Drink.«
Überrascht blickte Mortensen neben sich und sah, daß Herr Crivelli soeben das rotfarbene, mit dem kleinen Fruchtstück versehene Getränk auf die metallene Fläche der Theke stellte.
Mortensen dankte. Der Barkeeper betrachtete ihn aus Augen, in denen die Traurigkeit einen entwässerten, starren Ausdruck angenommen hatte. Crivelli, dieser dürre, melancholische Mensch, war die ideale Besetzung für den wenige Quadratmeter großen Bereich zwischen dem Tresen und der Rückwand, vor der die Reihen aus Alkoholika wie bei einer Gegenüberstellung aufgepflanzt standen.
Mortensen hob sein Glas an und nippte. Keine Frage, der Tomatensaft war unverkennbar, besaß jedoch nicht die Aufdringlichkeit wie bei einer Bloody Mary. Der Geschmack von Tomaten war bloß wie ein einzelnes Instrument in einem recht großen Orchester. Man hörte es eigentlich nur deshalb heraus, das Instrument, weil man es heraushören wollte. Der roten Farbe wegen.
Cheng hatte recht gehabt. Der Engel schmeckte nicht einfach nur ausgezeichnet, sondern fabulös, jedenfalls so, daß man davon süchtig werden konnte. Wobei auch Mortensen nicht genau sagen konnte, was er da schmeckte. Er ahnte es bloß, war sich aber höchst unsicher. Und befolgte nun Chengs Rat, indem er seinen Drink abseits irgendwelcher Überlegungen und Vermutungen genoß.
Nachdem Mortensen und Cheng erneut eine ganze Weile nichts gesprochen und sich ausschließlich ihren Cocktails gewidmet hatten, war es Mortensen, der langsam den Kopf hob, sich im gesamten Raum umsah und resignierend meinte, er könne die Frau nirgends entdecken.
»Wär ja auch verrückt gewesen«, sagte Cheng und gab dem Barkeeper ein Zeichen.
Crivelli trat an Cheng heran, legte seine Hände auf die Metallplatte, wobei sämtliche Finger zu einer Reihe geschlossen waren. Der ganze Crivelli, so aufrecht und gerade und steif, wirkte wie eine sorgsam gestaltete geometrische Figur. Mit ebenso geometrischer Förmlichkeit fragte er: »Was kann ich für Sie tun, Herr Cheng?«
»Letzten Dienstag … abends … Sie wissen, das war das letzte Mal, daß Thomas Marlock hier seinen Whisky trank. Oder was auch immer er konsumiert hat.«
»Mehrere Biere. Um genau zu sein, es waren fünf Pils.«
»Sehr gut. Also, an diesem Abend ist auch eine Frau an der Bar gestanden. Mitte zwanzig, dunkelblond, breites Gesicht, heller Teint, helle Kleidung, kräftig, ich sage kräftig, nicht fett, dezent geschminkt, jedoch mit deutlich bemalten Lippen. Sie hat kurz vor Thomas Marlock dieses Lokal verlassen. Sie hat, während sie hier gestanden ist, mit niemandem gesprochen, einfach nur geraucht, getrunken, nachgedacht, ins Narrenkastl gesehen.«
»Ich glaube nicht«, erklärte Crivelli in seinem kalten, präzisen Ton, »daß es sich bei dieser Frau um eine Närrin gehandelt hat.«
»Sie erinnern sich?«
»Wenn es die war, die dort in der Ecke stand«, sagte Crivelli und wies mit einer seitwärts und rückwärts ziehenden Bewegung seines Kopfes auf das rechts hinter ihm liegende Schlußstück der Theke.
Cheng sah Mortensen fragend an. Dieser nickte.
»Ja«, sagte Cheng. »Das ist die Frau, um die es sich handelt. Eine alte Bekannte?«
»An dem Abend, von dem Sie sprechen, war es das erste Mal, daß ich sie hier bedient habe.«
»Und danach noch einmal?«
»Nein.«
»Hat sie irgend etwas zu Ihnen gesagt.«
»Wie Sie selbst bereits erwähnten, Herr Cheng, die Dame war nicht zum Reden hier. Eher zum Arbeiten.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine eine künstlerische Arbeit.«
»Wie soll ich mir das vorstellen: künstlerisch?«
»Warten Sie einen Moment«, sagte Crivelli und verließ die Bar durch eine Öffnung in der Mitte der verspiegelten, mit Flaschen zugestellten Rückwand.
»Und das soll der Mann sein, der seine Rechnungen nicht ordentlich begleicht?« zeigte sich Mortensen verblüfft.
»Hab’ ich das behauptet?«
»Haben Sie.«
»Nun, sagen wir, Herr Crivelli hat das bezahlt, was er für den richtigen Betrag hielt. Er kann mitunter
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