Ein Sturer Hund
halten. Noch aber stand man Schulter an Schulter vor dem offenen Sarg, wenngleich natürlich kaum jemand mehr sah als den Hinterkopf der vor ihm stehenden Person.
Cheng bereute sogleich, die Leichenhalle überhaupt betreten zu haben. Ohnehin schienen alle bloß darauf zu warten, daß man wieder ins Freie treten konnte. Was auch geschah, nachdem die Musik, die aus einem Tonbandgerät gekommen war, geendet hatte. Wobei es sich erstaunlicherweise nicht um einen Trauermarsch oder ein Requiem gehandelt hatte, sondern um den Popsong »Ticket To The Moon«. Herr Bühler war in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten seines Lebens ein begeisterter Anhänger des Electric Light Orchestras gewesen. Er hatte die Schöpfungen dieser Gruppe als Offenbarung einer außerirdischen Existenz empfunden und war kaum noch einen Moment ohne seine Kopfhörer unterwegs gewesen. Er war in dieser Musik wie in einer Glocke gesessen. Woran auch die völlige Taubheit seiner letzten Jahre nichts geändert hatte. Man hatte ihn stets wippend dahinschreiten gesehen. Keine Bewegung ohne Elan. Folgerichtig hatte Dr. Callenbachs Anweisung gelautet, Herrn Bühler bei der Aufladung der Batterien zu helfen, die er für seinen Walkman benötigte. »Ob er etwas hört oder nicht, ist seine Sache«, hatte Dr. Callenbach erklärt. »Und wer kann schon sagen, wozu ein taubes Ohr imstande ist.«
Die Menschenmenge strömte auf den matschigen Platz vor der Leichenhalle, bildete Grüppchen. Dann wurde der geschlossene Sarg aus der Halterung gehoben und nach draußen gebracht. Drei von den vier Trägern waren Cheng nicht unbekannt. Es waren jene Herren, die einen Kranz gebildet und ihn aus der Klinik expediert hatten. Ihre eckigen Bewegungen und unbeweglichen Mienen verrieten große Würde. Hinter dem Sarg folgten Dr. Callenbach und seine Gattin, Arm in Arm, nicht minder würdevoll. Eine Gruppe nach der anderen schloß sich dem Zug an. Zuletzt Cheng, Rosenblüt und Dr. Thiel.
Die versammelte Menge bildete einen Kreis um das Grab. Sowie um den Sarg und Dr. Callenbach, der sich aus dem Arm seiner Frau gelöst hatte, um neben das Erdloch zu treten und seine Rede mit der Bemerkung einzuleiten, daß dieses Wetter, die strenge Kälte, gepaart mit den wärmenden Strahlen der Sonne, dem alten Bühler gefallen hätte, der ja ein Sommer- und Wintermensch gewesen sei, ein Radikaler abseits des Ideologischen, welcher wenig von Übergängen und Halbheiten gehalten habe. Er sei nun mal kein Herbstmensch gewesen, und am allerwenigsten ein Frühlingsmensch. Er, Callenbach, könne sich erinnern, wie Bühler einmal gesagt habe, im Frühling würden ihm die Dinge leblos erscheinen, wie Plastik, grelles Plastik. Wenn er im Frühling schwitze und im Herbst friere, würde ihm das komisch vorkommen. Dann lieber richtig.
Jemand kicherte. Aber es hatte nichts von einer Störung. Dann schon eher die körperliche Unruhe, die einige der Anwesenden befiel. Wohl auch darum, da nicht wenige der Trauergäste Halbschuhe trugen und des geringen Platzes wegen, den der freigeschaufelte Weg bot, bis zu den Knien im Schnee standen. Callenbach aber ließ sich nicht beirren und beschrieb das Leben Bühlers, das man ruhig als ein exemplarisches Jahrhundertleben bezeichnen könne, ein Leben, das wie die Leben der meisten dieser Generation von zwei Weltkriegen bestimmt worden sei. Kriege, die alles und jeden an sich gezogen hätten und mittels derer die Privatheit des Menschen sich im Allgemeinen der Politik und Kriegswirtschaft aufgelöst habe.
Ja, man könne sagen, daß der Mensch Bühler sich erst in dem Moment in eine private Person verwandelt habe, als er 1959 in die Psychiatrie Zweiffelsknot eingeliefert worden sei. So schmerzlich die Umstände gewesen sein mochten – eine Psychose ist schließlich kein Spaß, erst recht nicht die Behandlung einer solchen, erst recht nicht 1959 –, so sei dennoch ein Teil in Hans Bühler aufgeblüht, jener Teil, der sich für die Gärtnerei zu interessieren begonnen hatte. Bühlers Pflanzenzucht, seine Gewächshäuser, seine Kreuzungen, seine Kräuterkunde, seine botanische Besessenheit, dies alles sei auch ein Zeichen dafür gewesen, daß es ihm gelungen war, nach mehr als einem halben Jahrhundert eine wirkliche Privatheit zu entwickeln. Eine Privatheit, die, so der bittere Schluß, der von Bühler selbst stammte, erst durch den Eintritt einer seelischen Erkrankung sich habe eröffnen können.
Während dieser ausführlichen Würdigung des Toten durch den
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