Ein süßer Sommer
vorbringen. Wie Candy gesagt hatte, ältere Frauen: Frau Scherer war anscheinend hocherfreut, ein wenig Unterhaltung zu bekommen. Kaum hatte ich den Namen Helga Kuhn erwähnt, da lief ihr der Mund bereits über. Ich hatte sie beim Frühstück gestört und musste unbedingt auf einen Kaffee bleiben. Ein wenig erinnerte sie mich an Candy. Es grenzte an Anbetung, was sie mir neben die Kaffeetasse auf den Tisch legte. Helga! Ein Mensch, wie man einen zweiten lange suchen musste. Frau Scherer hatte in den letzten zwanzig Jahren keinen vergleichbaren mehr gefunden. Das alte Foto wurde mir mit einem Ächzen aus der Hand genommen und mit verdächtig feucht glitzernden Augen betrachtet. Sie wischte verstohlen unter ihrer Brille herum, seufzte noch einmal vernehmlich und verlor sich in Schwärmereien. Ein tüchtiges Mädchen, die Helga, so fleißig, so begabt, so klug und so bescheiden. Immer für andere da. Egal, wer in einer Vorlesung nicht aufgepasst hatte, Helga stellte ihre Unterlagen zur Verfügung. Drei Studienfächer hatte sie belegt. Geschichte und Pädagogik, um später möglichst vielen Kindern erklären zu können, welche Fehler in der Vergangenheit gemacht worden waren. Und Philosophie, darüber hatte sie stundenlang reden können, und zwar so, dass man es auch verstand, wenn man selbst nicht Philosophie studiert hatte. Von Adorno war Helga sehr beeindruckt gewesen. Vor allem diese Sätze über die Realität, die jeder Mensch sich selber schaffen musste – oder so ähnlich, wörtlich bekam Frau Scherer das nach all der Zeit nicht mehr zusammen. Aber wenn Helga und Leo debattiert hatten, das war immer die helle Freude gewesen. Da sagte Helga so kluge Sätze wie:
«Ehe man nach dem Himmel greift, sollte man auf Erden stehen können.» Frau Scherer meinte, das hätte sich auf Raumfahrt bezogen, die erste Mondlandung, das war ja zu der Zeit gewesen. Leo hatte allerdings die Ansicht vertreten, es sei Blasphemie. Nun, mit Gott hatte Helga auch nicht viel im Sinn gehabt, was aber nicht hieß, dass sie liederlich gewesen sei. Mit Männern hatte sie nämlich noch weniger im Sinn. Schon eine Andeutung in Richtung einer Affäre hatte zur Folge, dass Frau Scherer ihr freundliches Gesicht in Ablehnung verzog. Ich zeigte ihr das zweite Foto, gab ein paar Erklärungen zur Person ab und hörte lautstarken Protest. Ein verheirateter Mann? Wer hatte mir denn den Bären aufgebunden? Helga hatte überhaupt kein Verhältnis gehabt, sie war durch und durch anständig gewesen. Mit einem verheirateten Mann hätte sie sich nie und nimmer eingelassen. Frau Scherer hätte sie auch achtkantig an die Luft gesetzt, wenn sie von so etwas erfahren hätte. Vorher, in der verlotterten Wohngemeinschaft, mochte es zu irgendwelchen Intimitäten gekommen sein. Dazu konnte Frau Scherer sich nicht äußern, hielt es aber eigentlich für undenkbar. Von denen war auch noch keiner verheiratet gewesen. Und Helga hatte sehr unter den Verhältnissen gelitten, hatte Leo mehr als einmal gesagt. Und er hätte seiner Mutter niemals zugemutet, ein moralisch verkommenes Geschöpf aufzunehmen. Dabei war Helga dann, fand ich jedenfalls, vom Regen in die Traufe gekommen. Um es mir mit Frau Scherer nicht zu verscherzen, räumte ich ein Missverständnis ein und griff auf Candys Gastdozenten zurück. Eine freundschaftliche Beziehung, rein platonisch, so wie die Freundschaft zu Leo. Doch davon wusste Frau Scherer auch nichts. Sie fasste sich wieder, kehrte zu ihren Lobgesängen zurück und gab auch ein paar Daten preis. Als Leo seine Mutter damals bat, das kleine Zimmer an Helga zu vermieten, hatte sie ja zuerst abgelehnt. Man musste schließlich an die moralische Seite denken. Einen Sohn im Haus und dann ein junges Mädchen aufnehmen, das aus so einer verlotterten Wohngemeinschaft kam? Unmöglich. Doch Helga hatte sie rasch dazu gebracht, ihre Vorurteile gegenüber Studentinnen zu ändern.
«Wie lange hat sie bei Ihnen gewohnt?», fragte ich. Frau Scherer musste überlegen.
«Warten Sie mal, eingezogen ist sie im März . Das weiß ich genau. Leo hat nämlich im März Geburtstag, am dritten. Und er sagte damals, wenn ich ihm ein Geschenk machen will, über das er sich von ganzem Herzen freut, sollte ich mir Helga wenigstens einmal ansehen. Wir haben sie dann zu seinem Geburtstag eingeladen, und zwei Tage später ist sie eingezogen. Das müsste der . März gewesen sein.» Ausgezogen war Helga nach etwa anderthalb Jahren, im Sommer . Auf den Tag genau konnte Frau Scherer
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