Ein süßer Traum (German Edition)
sein Peiniger verschwunden war, tauchte er wieder auf, und die Mutter erlag seinem Charme. Denn charmant war er, auf eine unheimliche Art. Das Kind erzählte die Geschichte einem imaginären Freund, dem traditionellen Gefährten des einsamen Kindes, und sie war traurig und lustig. Der erwachsene Leser konnte die Sicht eines Kindes als übertrieben, als verzerrt interpretieren, aber im Grunde waren die geradezu albtraumhaften Szenen wie Kerzenschatten an einer Wand, banal und sogar geschmacklos. Ein Verlagslektor hatte das Buch ein kleines Meisterwerk genannt, und vielleicht war es das. Aber die Mutter und der ältere Bruder sahen noch etwas anderes, dass nämlich ein schreckliches Unglück durch den Zauber der Geschichte in die Ferne rückte: Colin zeigte in diesem Buch, dass er erwachsen geworden war, und Andrew sagte: »Weißt du, ich glaube, mein kleiner Bruder hat mich überrundet. Ich glaube nicht, dass ich diesen Grad an Distanz erreichen kann.«
»War es wirklich so schlimm?«, fragte Frances und hatte Angst vor seiner Antwort, die lautete: »Ja, das war es, ich glaube, dir ist nicht klar … er hätte wirklich kein schlechterer Vater sein können, oder?«
»Er hat euch nicht geschlagen.« Das klang schwächlich, und Frances suchte nach einem Aspekt, der die Geschichte abmildern würde.
Es gebe Schlimmeres als Schlagen, meinte Andrew.
Aber als sie beschlossen hatten, ein kleines Abendessen zu geben, um den
Stiefsohn
zu feiern, setzte Colin selbst den Namen seines Vaters auf die Liste.
Also würden wieder »alle« an dem großen Tisch sitzen. »Ich habe alle eingeladen«, sagte Colin. Sophie wurde als Erste gefragt und sagte zu. Geoffrey und Daniel und James, die drei bei Johnny, sagten, sie würden kommen, aber erst später – eine Versammlung. Johnny ebenso. Auch Jill würde kommen, Colin hatte sie auf der Straße getroffen. Julia meinte, dass niemand eine langweilige alte Frau haben wolle, und Wilhelm sagte zu ihr: »Meine Liebe, du redest dummes Zeug.« Sylvia wollte versuchen zu kommen, wenn ihr Dienst es erlaubte.
Der Tisch war für elf gedeckt. Wilhelm hatte einen wundersamen und höchst unenglischen Kuchen gestiftet, der die Form einer runden, etwas plumpen Spirale hatte und eine Oberfläche wie knuspriger, glitzernder Tüll – in Wirklichkeit Sahne und Baiser. Er war mit winzigen Goldflocken gesprenkelt. Sophie sagte, man sollte ihn wie einen Hut tragen, statt ihn zu essen.
Als sie sich zum Essen hingesetzt hatten, war die Hälfte der Plätze nicht besetzt, doch dann rauschte Sophie herein, mit Roland. Der gut aussehende junge Schauspieler bedachte alle mit seinem Charme und sagte: »Nein, nein, ich setze mich nicht, ich bin nur gekommen, um dir zu gratulieren, Colin. Wie du weißt, bin ich ein unverbesserlicher sozialer Aufsteiger, und wenn du ein berühmter Schriftsteller wirst, hänge ich mich eben dran.« Er küsste Frances und dann Andrew, schüttelte Colin die Hand, beugte sich über Julias und machte eine schwungvolle Verbeugung vor Wilhelm. »Bis später, Liebling«, sagte er zu Sophie, und dann: »Ich muss in zwanzig Minuten auf der Bühne stehen.« Und sie saßen da und hörten, wie der Wagen davondröhnte.
Sophie und Colin, die nebeneinandersaßen, küssten sich, umarmten sich, rieben die Wangen aneinander. Alle gestatteten sich, daran zu denken, dass Sophie schließlich Roland verlassen würde, der sie so unglücklich machte, und dass Colin und sie vielleicht …
Toasts wurden ausgebracht, das Essen wurde serviert. Die Mahlzeit war schon halb vorbei, als Sylvia hereinkam. Wie immer in letzter Zeit war sie nur zum Teil sie selbst: Sie war kurz vor dem Umfallen, und alle wussten, dass es bald so weit sein würde. Sie hatte einen jungen Kollegen mitgebracht, der ebenfalls ein Opfer des Systems war, wie sie sagte. Beide setzten sich, nahmen ein Glas Wein an, ließen zu, dass man Essen auf ihre Teller legte, aber sobald sie saßen, schliefen sie ein. Als Frances sagte: »Geht lieber ins Bett«, standen sie auf wie Gespenster und stolperten hinaus und nach oben.
»Ein sehr merkwürdiges System«, sagte Julia barsch; ihre Stimme klang beinahe drohend und bekümmert zugleich. »Wie können sie die jungen Leute nur so schlecht behandeln?«
Jill kam spät und entschuldigte sich. Sie war jetzt eine füllige junge Frau mit flachsgelbem Kraushaar. Sie trug Kleider, in denen sie öffentlichkeitstauglich und kompetent wirken wollte – was jeder verstand, als sie sagte, sie werde bei der
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