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Ein süßer Traum (German Edition)

Ein süßer Traum (German Edition)

Titel: Ein süßer Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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größere Summe hinterlassen. Zusammen mit dem Schreiben vom Rechtsanwalt kam ein Brief von ihm, den er offenbar betrunken geschrieben hatte, und darin stand, er habe begriffen, dass sie, Tilly, das einzig Wahre in seinem Leben sei. »Du bist mein Vermächtnis an die Welt«, und offenbar hielt er das andere stattliche Vermächtnis nur für einen lächerlichen materiellen Beitrag. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn je gesehen zu haben.
    Sylvia schaute bei Julia vorbei, um ihr von der Neuigkeit zu erzählen, und sagte: »Du warst so gut zu mir, aber jetzt brauche ich keine Zuwendungen mehr.« Julia saß still da und rang die Hände im Schoß, als hätte Sylvia sie geschlagen. Ihr unsensibles Verhalten war der Erschöpfung zuzuschreiben. Sylvia war einfach nicht sie selbst. Sie war für dauerhafte Überanstrengung und Belastung nicht gemacht, war immer noch ein zerbrechliches Mädchen, dessen große blaue Augen stets ein wenig gerötet waren. Und sie hustete sehr oft.
    Als sie nach einer Woche voller Arbeit und beinahe ohne Schlaf die Treppe hinaufging, traf Wilhelm Sylvia und bat sie wegen Julia um ihren Rat als Ärztin, aber Sylvia antwortete: »Tut mir leid, Geriatrie ist nicht mein Gebiet.« Damit schob sie sich an ihm vorbei, um sich in ihr Bett fallen zu lassen und unverzüglich einzuschlafen.
    Julia hatte das zufällig mitbekommen. Sie hörte vom oberen Treppenabsatz zu. Sie grübelte und litt; alles war ein Affront für sie in ihrem paranoiden Zustand – denn paranoid war er. Sie hatte das Gefühl, Sylvia hätte sich gegen sie gewandt.
    Sylvia hatte den Brief des Anwalts gelesen, während sie nach Schlaf hungerte wie eine Gefangene unter der Folter oder eine junge Mutter mit einem neugeborenen Baby. Anschließend ging sie mit dem Brief in der Hand hinunter zu Phyllida, die in einem mit Astralzeichen bedeckten Kimono in ihrer Wohnung thronte. Sie unterbrach Phyllidas sarkastisches »Und was verschafft mir die Ehre …« mit: »Mutter, hat er dir Geld hinterlassen?«
    »Wer? Wovon redest du?«
    »Mein Vater. Er hat mir Geld hinterlassen.«
    Als sie Phyllidas zorniges Gesicht sah, sagte Sylvia: »Hör doch mal zu, mehr will ich gar nicht, hör einfach zu.«
    Aber Phyllida war nicht mehr zu halten, und ihre Stimme schwoll an und senkte sich, während sie klagte: »Aha, ich zähle also nicht, natürlich zähle ich nicht, dir hat er das Geld hinterlassen …« Währenddessen hatte Sylvia sich in einen Sessel geworfen und schlief. Da lag sie schlaff und war nicht mehr in der Welt.
    Phyllida hatte den Verdacht, dass es ein Trick oder eine Falle sein könnte. Sie starrte auf ihre Tochter hinab, hob eine kraftlose Hand, um sie wieder fallen zu lassen. Sie setzte sich schwerfällig, erstaunt, erschrocken – und schwieg. Sie wusste, dass Sylvia hart arbeitete, jeder wusste das von jungen Ärzten. Aber dass sie einschlief, einfach so … Phyllida hob den Brief auf, der zu Boden gefallen war, las ihn und hielt ihn dann in der Hand. Sie hatte jahrelang keine Gelegenheit gehabt, dazusitzen und ihre Tochter anzusehen, wirklich anzusehen. Jetzt tat sie es. Tilly war so dünn und blass und erschöpft – es war ein Verbrechen, was von jungen Ärzten verlangt wurde, jemand sollte dafür bezahlen …
    Diese Gedanken vergingen, und eine tiefe Stille folgte. Die schweren Vorhänge waren zugezogen, im ganzen Haus war es ruhig. Vielleicht sollte sie Tilly wecken? Sie würde zu spät zur Arbeit kommen. Dieses Gesicht – das so anders war als ihres. Tillys Mund war der ihres Vaters, rosa und zart. Mit rosa und zart war er schon beschrieben, der Genosse Alan, ein Held, ach, sollten sie das doch denken. Zwei kommunistische Helden hatte sie geheiratet, zuerst den einen und dann den anderen. Was also war los mit ihr? (Diese Selbstkritik, die bislang untypisch für sie gewesen war, sollte sie bald auf die Via Dolorosa der Psychotherapie führen und von dort in ein neues Leben.)
    Als Tilly gekommen war, um ihr von der Erbschaft zu erzählen – hatte sie prahlen wollen? Sie verhöhnen? Aber Phyllidas Gerechtigkeitssinn sagte ihr, dass es nicht so war. Sylvia hatte eine Menge Allüren, und sie hasste ihre Mutter, und dennoch hatte Phyllida nie erlebt, dass sie gehässig war.
    Sylvia schreckte aus dem Schlaf auf und dachte, sie hätte einen Albtraum. Das Gesicht ihrer Mutter, derb, rot, mit wildem, vorwurfsvollem Blick, direkt über ihrem, und jeden Moment würde diese Stimme anfangen wie immer, auf sie einreden, sie anschreien. Du

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