Ein süßer Traum (German Edition)
sie noch da und intakt waren. Oder er las Montaigne, aber das hielt er geheim, denn er hatte das Gefühl, dass das ein Trost für alte Männer war und nicht für junge.
Wilhelm war gegangen, jedoch nicht, ohne Julia zuvor mit einer Wolldecke in ihren großen Sessel zu packen, denn sie bestand darauf, dass sie nicht müde war. Sie döste ein bisschen und wachte dann auf, da die Sorge das Valium überlistet hatte. Gereizt schüttelte sie die Decke ab und lauschte, denn eine Etage unter ihr wurde der Hund allmählich lästig. Auch sie hörte Sophie singen, dachte aber, es wäre das Radio. Unter Andrews Tür war Licht. Sie schlich die Treppe hinunter, zögerte, ob sie zu ihm hineingehen sollte, ging stattdessen noch eine Etage weiter nach unten und blieb auf dem Treppenabsatz vor Sylvias Tür stehen. Ein heller Spalt zeigte, dass Frances noch wach war. Die alte Frau hatte das Gefühl, dass sie zu Frances hineingehen und etwas sagen sollte, die richtigen Worte finden, sich zu ihr setzen, etwas tun …
welche
Worte?
Leise drehte Julia den Griff an Sylvias Tür und trat in ein Zimmer, in dem das Mondlicht über Sylvia lag und gerade den jungen Mann auf dem Boden erreichte. Sie hatte ihn vergessen, und jetzt erinnerte ihr Herz sie an ihre schreckliche, unzulässige Traurigkeit. Wilhelm hatte ihr vor nicht allzu langer Zeit gesagt, dass Sylvia heiraten werde und dass sie, Julia, nichts dagegen haben dürfe. Das denkt er also von mir, hatte Julia geklagt – im Stillen, aber sie wusste, dass er recht hatte. Sylvia musste heiraten, wenn auch wahrscheinlich nicht diesen Mann. Sonst würde er doch sicher neben ihr auf dem Bett liegen? Es war schrecklich für Julia, dass irgendein junger Mann, »ein Kollege«, mit Sylvia nach Hause kam und in ihrem Zimmer schlief. Sie sind wie Welpen in einem Korb, dachte Julia, sie lecken einander ab und schlafen einfach irgendwo ein. Es sollte doch eine Rolle spielen, wenn ein Mann im Zimmer einer jungen Frau war. Es sollte etwas bedeuten. Julia setzte sich vorsichtig in den Sessel, in dem sie – aber das schien eine Ewigkeit her zu sein – die kleine Sylvia zum Essen verlockt hatte. Jetzt konnte sie Sylvias Gesicht deutlich sehen, und als das Mondlicht über den Boden glitt, auch das des jungen Mannes. Wenn es nicht er sein würde, dieser junge Mann, der ziemlich nett aussah, dann würde es ein anderer sein.
Es kam ihr vor, als hätte ihr niemand außer Sylvia etwas bedeutet in ihrem Leben, als wäre das Mädchen die große Leidenschaft ihres Lebens gewesen – oh ja, ihr war klar, dass sie Sylvia liebte, weil sie Johnny nicht hatte lieben dürfen. Aber das war Unsinn, denn sie wusste – in ihrem Kopf –, wie sehr sie sich damals diesen ganzen Krieg über nach Philip gesehnt hatte, und auch, wie sehr sie ihn geliebt hatte. Die Lichtstrahlen auf dem Bett und dem Fußboden ähnelten der Willkür der Erinnerung, die dieses hervorhebt und dann jenes. Wenn sie auf ihren Lebensweg zurückblickte, reduzierten sich jahrelange Phasen, die einen scharfen und eigenen Geschmack gehabt hatten, zu so etwas wie Formeln. Dies waren die fünf Jahre des Ersten Weltkriegs. Diese kleine Scheibe da war der Zweite Weltkrieg. Aber wenn sie sich in diese fünf Jahre versenkte, in denen sie mit Geist und Gefühl einem feindlichen Soldaten gegenüber loyal gewesen war, dann waren sie endlos. Der Zweite Weltkrieg, der in ihrer Erinnerung wie ein düsterer Schatten war, in dem sie ihren Mann an sein Schicksal und an die Tatsache verloren hatte, dass er ihr nichts von dem erzählen konnte, was er tat, war eine schreckliche Zeit gewesen, und sie hatte oft gedacht, dass sie ihn nicht ertrug. Sie hatte nachts neben einem Mann gelegen, der sich damit beschäftigte, ihr Land zu zerstören, und sie hatte froh sein müssen, dass es zerstört wurde – und das war sie auch, aber manchmal kam es ihr vor, als würden die Bomben ihr eigenes Herz zerreißen. Und doch: Zu Wilhelm, einem Flüchtling vor dem monströsen Regime, das für sie kein deutsches war, konnte sie jetzt sagen: »Das war im Krieg – nein, im zweiten Krieg.« Als würde sie über einen Punkt auf einer Liste reden, die immer aktuell und genau sein musste, ein Ereignis nach dem anderen, oder wie Mondlicht und Schatten, die auf einen Weg fallen – beides hatte eine klare Bedeutung, wenn man darüber ging, aber wenn man zurückblickte, sah man einen dunklen Streifen im Wald und darauf Sprenkel aus fahlem Licht.
Ich habe gelebt und geliebt
, murmelte
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