Ein süßer Traum (German Edition)
Cockney.«
»Aber wozu denn, wo es doch so hässlich ist?«
»Um eine Stelle zu bekommen. Das sind Opportunisten. Wenn man eine Stelle beim Fernsehen oder beim Film haben will, muss man die gebildete Sprache ablegen.«
Um sie herum Zigarettenrauch und häufig wütende Stimmen. »Warum gibt es immer Streit, wenn es um Politik geht?«
»Ach, meine Liebe, wenn wir das verstehen würden …«
»Das erinnert mich an früher, wenn ich zu Besuch nach Hause kam, die Nazis …«
»Und die Kommunisten.«
Sie erinnerte sich an die Kämpfe, an das Geschrei, an fliegende Steine, rennende Füße – ja, an die Nächte, in denen man aufwachte und Füße rennen hörte, rennen. Nach irgendeiner Gräueltat rannten sie durch die Straßen und schrien.
Julia saß, umgeben von Zeitungen, in ihrem Sessel, bis ihre Gedanken sie aufschreckten und sie durch ihre Zimmer streifte und verärgert mit der Zunge schnalzte, wenn ein Figürchen am falschen Platz stand oder ein Kleid über einer Stuhllehne hing. (Was dachte sich Mrs. Philby bloß?) All ihr Kummer konzentrierte sich auf den Vietnamkrieg. Sie konnte ihn nicht ertragen. War das nicht genug, dieser Krieg früher, der erste, der so schrecklich war, und dann der zweite, was wollten sie denn noch, töten, töten, und jetzt dieser Krieg. Und die Amerikaner, waren sie verrückt, ihre jungen Männer zu schicken, die jungen Männer waren allen egal; wenn es Krieg gab, wurden die jungen Männer zusammengetrieben und weggeschickt, um getötet zu werden. Als wären sie zu nichts anderem gut. Immer wieder. Niemand lernte etwas, es war eine Lüge, zu sagen, dass wir aus der Geschichte lernten, wenn man irgendetwas daraus gelernt hätte, würden keine Bomben auf Vietnam fallen, und die jungen Männer … Julia träumte von ihren Brüdern, zum ersten Mal seit Jahren. Sie hatte Albträume von diesem Krieg. Im Fernsehen sah sie zu, wie Amerikaner gegen die Polizei kämpften, Amerikaner, die den Krieg nicht wollten, und sie wollte ihn auch nicht, sie stand auf der Seite der Amerikaner, die in Chicago oder an den Universitäten randalierten, und sie hatte sich doch für Amerika entschieden, als sie Deutschland verließ, um Philip zu heiraten, sie stand auf dessen Seite. Philip hatte gewollt, dass Andrew in den Staaten zur Schule ging, und wenn er das getan hätte, würde er jetzt wahrscheinlich zu dem Amerika gehören, das mit Schläuchen und Tränengas gegen die Amerikaner vorging, die protestierten. (Julia wusste, dass Andrew von Natur aus konservativ war oder, besser gesagt, auf der Seite der Autorität.) Johnnys neue Frau, die ihn offenbar verlassen hatte, kämpfte auf der Straße gegen den Krieg. Julia hasste und fürchtete Straßenkämpfe, sie hatte immer noch Albträume von dem, was sie in den dreißiger Jahren gesehen hatte, wenn sie zu Besuch nach Hause kam, nach Deutschland, das von den Banden zerstört wurde, die nachts randalierten und alles zerschlugen und schrien und durch die Straßen rannten. In Julias Kopf und Geist und Herz wirbelten vollkommen gegensätzliche Bilder, Gedanken, Emotionen.
Und ihr Sohn Johnny war ständig in der Zeitung, sprach sich gegen den Krieg aus, und sie spürte, dass er recht hatte. Obwohl Johnny noch nie recht gehabt hatte, da war sie sicher, aber angenommen, er hatte jetzt recht?
Ohne es Wilhelm zu sagen, setzte Julia ihren Hut auf, den mit dem engmaschigen Schleier, der ihr Gesicht am besten verbarg, und suchte Handschuhe aus, die nicht so schmutzempfindlich waren – sie assoziierte Politik mit Schmutz –, und machte sich auf den Weg, um Johnny auf einer Versammlung gegen den Vietnamkrieg sprechen zu hören.
Die Versammlung war in einem Saal, den sie für kommunistisch hielt. In den umliegenden Straßen wimmelte es von jungen Leuten. Das Taxi setzte sie vor dem Haupteingang ab, und als sie hineinging, starrten junge Leute sie an, die wie Zigeuner oder Rowdys gekleidet waren. Die, die sie im Taxi hatten kommen sehen, sagten zueinander, sie sei sicher eine CIA -Spionin, und andere, denen die alte Dame im Saal auffiel – es war kein einziger Mensch über fünfzig da –, sagten, sie sei bestimmt versehentlich da. Manche meinten, dass sie mit diesem Hut wahrscheinlich die Putzfrau sei.
Der Saal war voll. Er schien sich zu heben und anzuschwellen und zu schwanken. Es roch grauenhaft. Unmittelbar vor Julia waren zwei Köpfe mit fettigem, ungewaschenem blondem Haar – wie konnten Mädchen nur so wenig Selbstachtung haben? Dann sah sie, dass es
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