Ein süßer Traum (German Edition)
Julia, wie Beifallsstürme durch die Fenster drangen, Spott, Rufe, Sprechchöre: »Nieder mit dem amerikanischen Imperialismus. Nieder mit …«
Als Johnny herauskam, nutzte Rose die glückliche Gelegenheit, um den Star Genosse Johnny abzufangen und wie eine Ebenbürtige zu ihm zu sagen: »Deine Mutter war hier.« »Ich habe sie gesehen«, sagte er, ohne sie anzublicken: Er beachtete sie nie. »Sie war betrunken«, wagte sie zu sagen, aber er drängte sich wortlos an ihr vorbei.
Sylvia hatte ihr Versprechen nicht vergessen. Sie hatte für Julia einen Termin bei einem gewissen Dr. Lehmann vereinbart. Wilhelm kannte ihn und wusste, dass er Spezialist für die Probleme der Alten war. »Für unsere Probleme, liebe Julia.«
»Geriatrie«, sagte Julia.
»Was ist schon ein Wort? Für mich kannst du auch gleich einen Termin machen.«
Julia nahm vor Dr. Lehmann Platz, ein sehr sympathischer Mann, dachte sie, aber so jung – in Wirklichkeit war er mittleren Alters. Deutscher wie sie? Mit diesem Namen? Also Jude? Geflohen vor Leuten wie ihr? Es war bemerkenswert, wie oft sie unwillkürlich an so etwas dachte.
Er hatte eine tadellose englische Stimme, ohne jeglichen Akzent: Ärzte mussten offenbar nicht Cockney reden.
Sie wusste, dass er sie auf ihrem Weg zum Sessel beobachtet und ziemlich viele Details an ihr wahrgenommen hatte. Sicher hatte er noch mehr von Sylvia erfahren und wusste mehr über sie als sie selbst, weil er ihren Urin analysiert, ihren Blutdruck gemessen und ihr Herz abgehört hatte.
Er sagte lächelnd: »Mrs. Lennox, man hat Sie zu mir geschickt, weil Sie Probleme haben, die mit dem Alter zusammenhängen.«
»Es scheint so.« Sie wusste, dass er den Groll nicht überhört hatte. Er lächelte ein wenig.
»Sie sind fünfundsiebzig Jahre alt.«
»So ist es.«
»Das ist nicht sehr alt, heutzutage nicht mehr.«
Sie kapitulierte: »Doktor, manchmal fühle ich mich, als wäre ich hundert.«
»Sie erlauben sich zu denken, dass Sie hundert sind.«
Das hatte sie nicht erwartet, und beruhigt lächelte sie diesen Mann an, der sie mit ihrem Alter nicht belasten würde.
»Physisch fehlt Ihnen nichts. Glückwunsch. Ich wünschte, ich wäre so gut in Form. Aber da haben wir’s, jeder weiß, dass Ärzte ihrem eigenen Rat nicht folgen.«
Jetzt erlaubte sie sich zu lachen und nickte, als wollte sie sagen: Gut, und jetzt weiter.
»Ich sehe so etwas ziemlich oft, Mrs. Lennox. Leute, denen man eingeredet hat, dass sie sich alt fühlen sollen, wenn es noch zu früh ist.«
Wilhelm?, fragte sich Julia. Hatte er …
»Oder die sich selbst eingeredet haben, dass sie sich alt fühlen sollen.«
»Habe ich das getan? Nun … vielleicht.«
»Ich werde Ihnen etwas sagen, das Sie vielleicht schockiert.«
»Nein, Doktor. Ich bin nicht leicht zu schockieren.«
»Gut. Sie können beschließen, alt zu werden. Sie sind an einem Scheideweg, Mrs. Lennox. Sie können beschließen, alt zu werden, und dann sterben Sie. Sie können aber auch beschließen, nicht alt zu werden. Noch nicht.«
Sie saß da und überlegte, und dann nickte sie.
»Ich glaube, Sie hatten irgendeinen Schock. Ist jemand gestorben? Aber es spielt keine Rolle, was es war. Ich finde, Sie zeigen Anzeichen dafür, dass Sie trauern.«
»Sie sind ein sehr gescheiter junger Mann.«
»Danke, aber so jung bin ich nicht. Ich bin fünfundfünfzig.«
»Sie könnten mein Sohn sein.«
»Ja, das stimmt. Mrs. Lennox, ich möchte, dass Sie von diesem Stuhl aufstehen und weggehen aus – der Situation, in der Sie jetzt sind. Sie können sich dafür entscheiden. Sie sind keine alte Frau. Sie brauchen keinen Arzt. Ich werde Ihnen Vitamine und Mineralien verschreiben.«
»Vitamine!«
»Warum nicht? Ich nehme sie auch. Und kommen Sie in fünf Jahren wieder, und dann besprechen wir, ob es Zeit für Sie ist, alt zu sein.«
Dunstige goldene Wolken warfen Diamanten ab, streuten sie um das Taxi herum und darüber, wo sie zu kleineren Kristallen zerplatzten oder an den Fenstern herunterglitten, und sie warfen Schatten in Form von Punkten und Flecken, die das Thema von Julias kleinem, getupftem Schleier aufnahmen, der oben auf ihrem Kopf von einer mächtigen Gagatspange gehalten wurde. Der Aprilhimmel mit Sonne und Schauern war Betrug, denn in Wirklichkeit war es September. Julia war gekleidet wie immer. Wilhelm hatte zu ihr gesagt: »Mein Schatz, Liebling, meine liebste Julia, ich kaufe dir ein neues Kleid.« Sie protestierte und murrte und freute sich
Weitere Kostenlose Bücher