Ein süßer Traum (German Edition)
sie das Schiller-Bruchstück, das sie nach fünfundsechzig Jahren noch immer im Kopf hatte, aber es war eine Frage: Habe ich gelebt und geliebt?
Das Mondlicht war bei Julias Füßen angekommen. Also hatte sie eine ganze Weile dort gesessen. Sylvia hatte sich kein einziges Mal auch nur gerührt. Die beiden schienen nicht zu atmen: Sie hätte ohne Weiteres glauben können, dass sie tot dort lagen. Unwillkürlich dachte sie: Wenn du tot wärst, Sylvia, würdest du nicht viel verpassen, du wirst ohnehin enden wie ich, als alte Frau, die ihr Leben hinter sich hat, die zu einem Durcheinander aus schmerzhaften Erinnerungen zusammenschrumpft. Julia döste ein, das Valium versetzte sie schließlich in einen so tiefen Schlaf, dass sie schlaff war unter Sylvias Händen, die sie schüttelten.
Sylvia war mit trockenem Mund aufgewacht und hatte nach dem Wasser gegriffen, und sie sah ein kleines Gespenst im Mondlicht sitzen, von dem sie dachte, dass es verschwinden würde, wenn sie ganz wach war. Aber Julia verschwand nicht. Sylvia ging zu ihr hin, hielt sie fest, wiegte sie, während die alte Frau wimmerte, ein verzweifelter, herzzerreißender Laut.
»Julia, Julia«, flüsterte Sylvia, die an den jungen Mann dachte, der seinen Schlaf brauchte. »Wach auf, ich bin’s.«
»Ach, Sylvia, ich weiß nicht, was ich machen soll, ich bin nicht ich selbst.«
»Steh auf, Liebes, bitte, du musst ins Bett.«
Julia stand schwankend auf, und Sylvia, ihrerseits im Halbschlaf schwankend, führte sie aus dem Zimmer und die Treppe hinauf. Jetzt war kein Licht mehr unter Frances’ Tür, unter Andrews auch nicht, aber dort, unter Colins schon.
Sylvia legte Julia auf ihr Bett und zog die Decke über sie.
»Ich glaube, ich bin krank, Sylvia. Ich bin bestimmt krank.«
Dieser Aufschrei traf Sylvias professionelles Ich, und sie sagte: »Ich kümmere mich um dich. Bitte, sei nicht so traurig.«
Julia fielen die Augen zu, und Sylvia, die im Stehen einzuschlafen drohte, zwang sich aufzustehen, schlich durch den Raum, wobei sie sich auf die Stuhllehnen stützte, und gelangte schließlich in ihr eigenes Zimmer, wo ihr Kollege aufgerichtet saß. »Ist es schon Morgen?« »Nein, nein, schlaf weiter.« »Gott sei Dank.« Er sank wieder zurück, und sie fiel auf ihr Bett.
Und jetzt schliefen alle außer Colin, der Sophie in den Armen hielt, die schlief, während der kleine Hund auf ihrer Hüfte lag und döste, auch wenn sein Büschel von einem Schwanz manchmal flatterte.
Colin dachte nicht an die schöne Sophie, die in seinen Armen lag. Wie zuvor seine Mutter versprach er im Wahn: »Ich bringe ihn um, ich schwöre es.« Eine vertrackte Situation! Wenn Johnny sich in dem boshaften Wortedrechsler wiedererkannt hatte, dann hatte man ihn um den Gipfel des objektiven Urteils gebeten: Nur die Maßstäbe für ausgezeichnetes literarisches Niveau sollten sein Denken beflügeln:
»Ist das ein guter Roman oder nicht?«
– und vielleicht die Erinnerung an die Romane, die er gelesen hatte, als er ein sehr belesener Mensch gewesen war, bevor er dem simplen Charme des Sozialistischen Realismus erlag. Als würde man vom Opfer einer schonungslosen Karikatur verlangen, dass es sagt: »Oh, gut gemacht! Wie talentiert du bist!« Kurz und gut, von Genosse Johnny hatte man ein Benehmen verlangt, zu dem er nicht fähig war, wie seine Familie schon lange übereinstimmend festgestellt hatte. Andererseits – wenn er sich selbst nicht erkannt hatte, dann musste man ihm vorwerfen, dass er nicht den geringsten Argwohn darüber hegte, wie zumindest einer seiner Söhne ihn sah.
Julia trauerte, sie trauerte, aber sie hätte nicht sagen können, um was, wenn nicht um Sylvia oder um ihr ganzes Leben, sie vertiefte sich in die Zeitung, ließ sie fallen, nahm sie wieder auf, und wenn Wilhelm mit ihr ins Cosmo ging, versuchte sie zu erfassen, was um sie herum gesprochen wurde. Der Vietnamkrieg, darüber wurde geredet. Manchmal kam Johnny mit seiner Entourage herein, dramatisch, kraftvoll, und vielleicht nickte er ihr zu oder grüßte sie sogar mit der geballten Faust. Oft war Geoffrey bei ihm, den sie so gut kannte, ein gut aussehender junger Mann, wie
Lochinvar from the West
, sagte sie verächtlich zu Wilhelm. Oder Daniel mit seinem roten Haar wie ein Leuchtfeuer. Oder James, der zu ihr kam und sagte: »Ich bin James, erinnern Sie sich an mich?« Aber sie erinnerte sich an niemanden mit Cockney-Akzent.
»Das gehört sich jetzt so«, erklärte Wilhelm. »Sie sprechen
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