Ein süßer Traum (German Edition)
Symbol für diesen Glauben gewesen: »Die Sowjetunion ist unsere Mutter, und unsere Mutter beleidigen wir nicht« – so drückten es Jahrzehnte später Leute aus, die in Träume versunken gewesen waren.
Hier saßen sie und hörten einem Mann zu, der vier Jahre Zwangsarbeit in einem kommunistischen Gefängnis geleistet hatte, der brutal misshandelt worden war, hörten einen so schmerzlich emotionalen Bericht, dass Reuben Sachs manchmal weinte. Er weine, weil »der große Traum der Menschheit beschmutzt und besudelt« sei, erklärte er, und er appelliere an ihre Vernunft.
Doch die Gesichter derer, die an diesem Abend zu der Versammlung gekommen waren, um »die Wahrheit zu hören«, blieben ausdruckslos und unbewegt. Sie hörten zu, als beträfe der Bericht sie nicht. Eineinhalb Stunden lang sprach der Abgesandte der Wahrheit und schloss dann mit dem leidenschaftlichen Appell, ihm Fragen zu stellen, aber niemand fragte etwas. Die Versammlung endete, als wäre gar nichts gesagt worden, die Leute standen auf und strömten hinaus, nachdem sie Johnny zugenickt und sich bei Frances bedankt hatten, die sie für die Gastgeberin hielten. Und als sie beim Hinausgehen dann anfingen, miteinander zu sprechen, ging es um andere Themen.
Reuben Sachs blieb sitzen und erwartete das, weswegen er nach London gekommen war, aber er hätte ebenso gut über die Zustände im mittelalterlichen Europa oder über Steinzeitmenschen sprechen können. Er konnte nicht glauben, was er sah, was geschehen war.
Auch Julia blieb auf ihrem Platz sitzen und sah sich süffisant und ein wenig bitter um, während Andrew und Colin offene Verachtung zeigten. Johnny ging mit ein paar anderen fort, ohne seine Söhne und seine Mutter anzusehen.
Der Mann neben Frances hatte sich nicht gerührt. Sie spürte, dass sie nicht hätte kommen sollen. Eine alte Traurigkeit ergriff sie, und sie musste sich sammeln.
»Frances«, sagte der Mann neben ihr, »das war nicht angenehm zu hören.«
Sie lächelte zerstreut, doch als sie sein Gesicht sah, dachte sie, dass wenigstens einer begriffen hatte, was gesagt worden war.
»Ich bin Harold Holman«, sagte er. »Aber anscheinend erinnerst du dich nicht an mich? Ich war früher viel mit Johnny unterwegs … Ich war bei euch, als eure Kinder klein waren – damals war ich mit Jane verheiratet.«
»Das habe ich offenbar alles weggesperrt.«
Inzwischen beobachteten Andrew und Colin sie: Das Zimmer war jetzt beinahe leer, und Julia führte den desillusionierten Wahrheitsbringer in ihre Zimmer hinauf.
»Kann ich dich anrufen?«, fragte Harold.
»Warum nicht? Aber ruf mich lieber beim
Defender
an.« Und sie senkte die Stimme, wegen ihrer Söhne. »Ich bin morgen Nachmittag da.«
»Gut«, sagte er und ging. Es war so beiläufig gewesen, und sie begriff gerade erst, dass er an ihr als Frau interessiert war. Sie hatte sich abgewöhnt, das zu erwarten. Und jetzt kam Colin und fragte: »Wer ist der Mann?«
»Ein alter Freund von Johnny – von früher.«
»Weswegen ruft er dich an?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht gehen wir einen Kaffee trinken, um der alten Zeiten willen«, log sie.
»Ich fahre zurück in die Schule«, sagte Colin abrupt und misstrauisch, und als er aus dem Haus ging, verabschiedete er sich nicht.
Was Andrew betraf, so sagte der: »Ich helfe Julia mit unserem Gast, der arme Mann.« Er verließ das Zimmer mit einem Lächeln, das gleichzeitig verschwörerisch war und eine Warnung, aber man durfte bezweifeln, dass er das wusste.
Eine Frau, die wie Frances ihr liebeshungriges Ich hinter verschlossenen Türen versteckt hielt, musste überrascht sein, wenn die Türen sich plötzlich wieder öffneten. Harold gefiel ihr, das war offensichtlich, weil sie zum Leben erwachte, ihren eigenen Puls spürte, weil der Elan sie packte.
Aber warum er? Er hatte sie überlistet, gut. Nichts Außergewöhnliches. Die Gelegenheit war außergewöhnlich gewesen, wer würde so etwas glauben, ohne es erlebt zu haben? Es war durchaus möglich, dass dieser Harold sich als Einziger erlaubt hatte, zu
begreifen
, was Reuben Sachs berichtete. Ein guter Ausdruck: begreifen. Man konnte anderthalb Stunden dasitzen und sich Dinge anhören, welche die kostbare feste Burg des Glaubens eigentlich in Stücke reißen müssten, oder die einfach nicht in die eigene Gedankenwelt passten, und es trotzdem nicht
begreifen
. Es ließ sich eben nicht zwingen …
Frances schlief nicht gut in dieser Nacht, und das lag daran, dass sie sich gestattete,
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