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Ein süßer Traum (German Edition)

Ein süßer Traum (German Edition)

Titel: Ein süßer Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Vorträgen, an seinem flehenden und wütenden Blick, und die Worte, die er wie einen Refrain wiederholte, lauteten: »Ich bin meinen Überzeugungen nie untreu geworden.«
    Als er sich im Laufe einer Friedens- und Goodwill-Reise zu einem brüderlichen Besuch in Prag aufhielt, hatte man ihn als kosmopolitischen zionistischen Spion für den amerikanischen Imperialismus verhaftet. Im Polizeiwagen wiederholte er seinen Entführern gegenüber immer wieder: »Wie könnt ihr euch als Vertreter eines Arbeiterstaats die Hände mit so einer Arbeit schmutzig machen?« Auch als sie ihn schlugen und immer wieder schlugen, sagte er das. Im Gefängnis auch. Die Wärter waren Bestien und die Vernehmungsbeamten ebenfalls, aber er wandte sich weiterhin an sie wie an zivilisierte Wesen. Er sprach sechs Sprachen, seine Peiniger jedoch wollten ihn nur in einer Sprache verhören, die er nicht verstand, auf Rumänisch, und das hieß, dass er zunächst nicht wusste, was man ihm vorwarf, nämlich alle möglichen antisowjetischen und antitschechischen Aktivitäten. »Ich beherrsche einige Sprachen, also lassen Sie mich erklären …«, sagte er zu ihnen, vergeblich. Während der Verhöre lernte er genug Rumänisch, um ihnen folgen und schließlich seine Argumente vorbringen zu können. Und dennoch, tagelang, monatelang, jahrelang wurde er zusammengeschlagen, geschmäht, bekam lange Zeit kein Essen, keinen Schlaf. Es gab kaum eine Folter, die ihm erspart geblieben wäre. Vier Jahre lang. Beharrlich bestand er darauf, dass er unschuldig war, und erklärte den Vernehmungsbeamten und Gefängnisaufsehern, dass sie die Ehre des Volkes, die Ehre des Arbeiterstaats beschmutzten, wenn sie so eine Arbeit taten. Es dauerte lange, bis ihm klar wurde, dass sein Fall nicht einzigartig war und dass das Gefängnis voll war mit Leuten wie ihm, die an die Wände klopften und einander Botschaften schickten. Leuten, die genau wie er überrascht waren, sich plötzlich im Gefängnis wiederzufinden. Manche erklärten ihm, dass »Idealismus unter diesen Umständen nicht angebracht ist, Genosse«. Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Als er gerade aufgehört hatte, an die Klassenzugehörigkeit seiner Folterer und an das Gute in ihnen zu appellieren, als er das Vertrauen in die langfristigen Möglichkeiten der sowjetischen Revolution verloren hatte, wurde er im Zuge einer neuen Morgenröte des sowjetischen Imperiums freigelassen. Und stellte fest, dass er noch immer eine Mission hatte, aber jetzt ging es darum, den Genossen die Augen zu öffnen, die sich noch immer im Wesen des Kommunismus täuschten.
    Frances hatte beschlossen, sich keine »Enthüllungen« anzuhören, die ihr schon seit Jahrzehnten bekannt waren, doch als der Raum voll war, schlich sie sich hinein und setzte sich in die letzte Reihe. Plötzlich saß sie neben einem Mann, der ihr bekannt vorkam und der sie offenbar ebenfalls erkannte, so, wie er sie grüßte. Johnny saß in einer Ecke und hörte mit unbeteiligter Miene zu. Seine Söhne saßen mit Julia auf der anderen Seite des Raums und würdigten ihren Vater keines Blickes. Ihre Gesichter hatten den angespannten, unglücklichen Ausdruck, den Frances schon seit Jahren kannte. Während sie den Blick ihres Vaters mieden, lächelten sie ihr immer wieder zu, um ihr Rückhalt zu geben. Doch statt überzeugend ironisch – wie sie es gerne gehabt hätten – wirkte ihr Lächeln kläglich. Im Zimmer waren Menschen, die in ihrer frühen Kindheit um sie gewesen waren, und manche, mit deren Kindern sie gespielt hatten.
    Als Reuben seinen Bericht begann: »Ich bin gekommen, um euch die Wahrheit über die Lage zu sagen, wie es meine Pflicht ist …«, war es still im Raum, und er konnte nicht darüber klagen, dass das Publikum nicht aufmerksam war. Aber diese Gesichter … Ihre Mienen waren höflich und ausdruckslos. Das Publikum reagierte nicht auf die bei Versammlungen übliche Weise: mit einem Lächeln, einem Nicken, mit Zustimmung oder Widerspruch. Die Zuhörer wirkten beinahe unbeteiligt. Manche waren Kommunisten, waren ihr Leben lang Kommunisten gewesen und würden es auch bleiben, wie Menschen eben, die eine Entscheidung nie revidieren. Andere waren Kommunisten gewesen, doch auch wenn sie die Sowjetunion kritisierten, sogar leidenschaftlich, waren sie noch immer Sozialisten und bewahrten sich den Glauben an den Fortschritt, an die immer weiter nach oben führende Rolltreppe in eine bessere Welt. Und die Sowjetunion war ein so starkes

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