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Ein süßer Traum (German Edition)

Ein süßer Traum (German Edition)

Titel: Ein süßer Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Leuten die Augen für die Wahrheit zu öffnen
, las sie ihn, und dann noch einmal, und als sie es sich reiflich überlegt hatte, rief sie ihren Sohn an.
    »Ich habe einen Brief aus Israel hier, von einem Mann namens Reuben Sachs, für dich.«
    »Ein guter Typ«, sagte Johnny. »Er hat seine progressive Position als nicht parteigebundener Marxist immer bewahrt und hat sich für friedliche Beziehungen zur Sowjetunion eingesetzt.«
    »Wie dem auch sei, er bittet dich, dass du deine Freunde und Genossen zu einem Treffen zusammenrufst, damit er dort über seine Erfahrungen in einem tschechischen Gefängnis sprechen kann.«
    »Dass er da war, hat sicher einen guten Grund.«
    »Er wurde als zionistischer Spion für den amerikanischen Imperialismus verhaftet.« Johnny schwieg. »Vier Jahre war er in Haft, und man hat ihn gefoltert und brutal misshandelt. Und jetzt sag bitte nicht:
Leider wurden manchmal Fehler gemacht.
«
    »Was willst du, Mutti?«
    »Ich finde, du solltest tun, worum er dich bittet. Er schreibt, er würde den Leuten gern die Augen für die Wahrheit öffnen, über die Methoden, die die Sowjetunion anwendet. In deinen Augen ist er sicherlich nichts weiter als ein Provokateur.«
    »Ich fürchte, ich sehe nicht ein, was das bringen soll.«
    »In diesem Fall berufe ich selbst eine Versammlung ein. Immerhin, Johnny, bin ich in der glücklichen Lage zu wissen, mit wem du verkehrst.«
    »Warum glaubst du, dass sie zu einer Versammlung kommen, die du einberufen hast, Mutti?«
    »Ich schicke allen eine Kopie dieses Briefes. Soll ich ihn dir vorlesen?«
    »Nein, ich kenne die Lügen, die verbreitet werden.«
    »In zwei Wochen kommt er nach London – und zwar aus dem einzigen Grund, um zu den Genossen zu sprechen. Anschließend fährt er auch nach Paris. Soll ich einen Termin vorschlagen?«
    »Wenn du willst.«
    »Dann nenn mir bitte einen Zeitpunkt, der dir auch passt. Er ist sicher nicht besonders erfreut, wenn du nicht kommst.«
    »Ich rufe dich an und sage dir einen Termin. Aber ich distanziere mich ganz klar von jeder antisowjetischen Propaganda.«
    Am fraglichen Abend fand sich in dem großen Wohnzimmer eine ungewöhnliche Auswahl von Gästen ein. Johnny hatte Kollegen und Genossen eingeladen, und Julia hatte Leute gebeten, die Johnny ihrer Meinung nach hätte einladen sollen, aber nicht eingeladen hatte. Manche waren noch in der Partei, andere waren an verschiedenen krisenhaften Punkten ausgetreten – nach dem Hitler-Stalin-Pakt, dem Aufstand in Berlin, in Prag, in Ungarn. Einige hatten sogar beim Angriff auf Finnland die Konsequenzen gezogen. Alle nannten sich Marxisten. Ungefähr fünfzig Personen kamen; der Raum war mit Stühlen vollgestellt, einige Zuhörer standen an den Wänden. Andrew und Colin, die sich zunächst beklagt hatten, dass alles so langweilig sei, waren auch gekommen.
    »Warum tust du dir das an?«, fragte Colin seine Großmutter. »Das passt doch gar nicht zu dir.«
    »Ich hoffe, dass man Johnny vielleicht etwas begreiflich machen kann, auch wenn ich wahrscheinlich nur eine törichte alte Frau bin.«
    Die Truppe vom St. Joseph’s war mit Prüfungen beschäftigt. James war nach Amerika gefahren. Die Mädchen aus dem Untergeschoss waren demonstrativ in die Disco gegangen: Politik war einfach Scheiße.
    Reuben Sachs hatte mit Julia zu Abend gegessen, allein: Frances war wohl derselben Meinung wie die Mädchen, bis hin zur Wortwahl. Er war ein rundlicher kleiner Mann, verzweifelt und ernst, und konnte nicht aufhören, über das zu sprechen, was ihm zugestoßen war. Als die Versammlung begann, war sie nur eine Fortsetzung dessen, was er Julia erzählt hatte; die hatte ihn wissen lassen, dass sie nie Kommunistin gewesen sei und nicht überzeugt werden müsse, und dann hatte sie geschwiegen, denn es war offensichtlich, dass er nichts anderes brauchte, als zu reden, während sie – oder jemand anders – zuhörte.
    In Israel hatte er als Sozialist jahrelang eine schwierige politische Position vertreten: Den Kommunismus hatte er zwar abgelehnt, aber verlangt, dass die nicht parteigebundenen Sozialisten der Welt die friedlichen Beziehungen mit der Sowjetunion unterstützen sollten: Eine Überzeugung, die unweigerlich auf Ablehnung bei der Regierung stieß. Während des Kalten Krieges hatte man ihn als Kommunisten verunglimpft. Aufgrund seines Naturells litt er darunter, dass er ganz allein dastand und von allen Seiten angeschossen wurde. Das sah man an seinen aufgewühlten, leidenschaftlichen

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