Ein Tag im Maerz
Lebens leide und mein Freund … nun ja, gar nicht mehr lebt?«
Bryony bemerkte, dass sie weinte, nachdem sie das gesagt hatte. Fast kam es ihr vor, als wären nur Sharon und sie im Raum; als hätten Sol und der Mechaniker und der Mittelständler und der ganze Rest sie lautlos alleingelassen.
»Also, warum kannst du nicht vergeben?«, fragte Bryony. In ihr regte sich die Übelkeit, doch sie schob sie beiseite. Aus irgendeinem Grund empfand sie das verzweifelte Bedürfnis, eine Verbindung zu Sharon herzustellen und von ihr infrage gestellt zu werden.
Sharon ließ den Kopf hängen, dann sah sie wieder auf und musterte die Gesichter, die auf sie gerichtet waren, wartete auf Antworten und ein wenig Leitung.
»Ich bin mir nicht sicher … ich weiß einfach, dass ich es nicht kann … Na ja, jedenfalls noch nicht.«
»Nun, ich habe dem Mann, der meinen Hund getötet hat, auch noch nicht verzeihen können«, sagte der Mittelständlermit tiefer Stimme. Er rieb die Hände an seiner Cordhose, auf und ab, und sein Schnurrbart zuckte leicht. Seine Hängewangen sahen fast so aus wie die eines Hundes, und seine großen Ohrläppchen hingen beinahe genauso weit herunter. Bryony fühlte sich an den Beginn des alten Disney-Films erinnert, 101 Dalmatiner , wie Pongo sehnsüchtig die Straße hinunterblickt auf die Hunde und ihre bemerkenswert ähnlichen Besitzer, allesamt mit spitzen Nasen und aufgerichteten Schweifen. Sie lächelte in sich hinein.
»Deshalb bist du hier?«, fragte Mai, die eindeutig zu mehr Selbstsicherheit gefunden hatte.
»Ja. Ich weiß … ich weiß, es ist albern, aber der Hund war alles, was mir nach dem Tod meiner Frau noch blieb. Und eines Tages überfuhr ihn jemand mit dem Auto und ließ ihn einfach auf der Straße liegen. Der Fahrer hat noch nicht einmal versucht, mich zu verständigen. Meine Telefonnummer war am Halsband, verdammt noch mal«, sagte er in traurigem Unglauben. Er wirkte ein wenig labil, aber zum ersten Mal an diesem Morgen empfand Bryony ein Gefühl, das an ihr zupfte. Sie wusste natürlich, dass sie von einem Hund sprachen, aber sie begriff plötzlich, dass ein Verlustgefühl maßstäblich sein musste und für diesen Mann der Verlust seines Hundes das Gleiche bedeutete wie für sie der Verlust von Max.
Ihr wunderbarer Max. Sein Gesicht blitzte wieder vor ihr auf, sein freches Grinsen mit der Zigarette im Mundwinkel, mit dem er sie an ihrem ersten Tag im Pub angelacht hatte. Der Schmerz kehrte zurück.
»Würdest du dem Mann verzeihen, der deinen Hund getötet hat, wenn er morgen an deine Tür klopft?«, fragte Bryony nervös. Sie stellte die Frage nur, um den Kloß aus ihrer Kehle zu vertreiben.
Der Mann rückte seine gepunktete Fliege zurecht und lehntesich zurück. »Hmmmm. Ja, ich glaube, das könnte ich, wenn ich mir genug Mühe gebe«, sagte er.
»Warum?«, fragte Bryony.
»Weil ich mich dann besser fühlen würde.«
Bryony zog eine Braue hoch. »Also sagst du, dass sich der Leidende durch Vergebung besser fühlt? Dass Vergeben helfen könnte, die Wunden verheilen zu lassen?« Sie spürte eine Leichtigkeit um ihre Brust, als sie neue Verknüpfungen in ihren Denkprozessen anlegte. Denkprozesse, die zuvor in einer trüben dunklen Wolke verloren gegangen waren.
»Ja, guter Punkt, Mel«, sagte Sol und klatschte laut in die Hände. Das Geräusch hallte durch den Raum.
Bryony zog ein gequältes Gesicht. Es erinnerte sie an einen Schuss. Sie atmete tief durch.
»Sharon, hast du diesen Menschen in letzter Zeit gesehen? Dem, dem du vergeben möchtest?«, meldete sich Mai. Etwas zuckte durch ihr Gesicht, und sie erweckte den Eindruck, als bereue sie es bereits, mit ihrer Frage vielleicht zu weit gegangen zu sein.
Sharon blickte wieder in ihren Schoß. Von draußen waren kurz spielende Kinder zu hören.
»Nein.«
»Wann hast du ihn denn zum letzten Mal gesehen?«, fragte Mai mit nervöser Miene.
»Zum letzten Mal habe ich ihn gesehen, bevor er ins Gefängnis kam«, antwortete Sharon. »Ich habe ihn im Gefängnis nicht besucht. Mir kommt es jetzt schon sehr lange vor, dass er hinter Gittern sitzt …« Ihre Stimme versiegte, und sie begann wieder zu weinen.
Wieder stellte sich Schweigen ein, das vom Röhren eines Busses aus der Ferne gebrochen wurde.
»Glaubst du, du würdest dich besser fühlen, wenn –«, setzte Mai zu einer Frage an, doch sie wurde unterbrochen.
»Entschuldige, Mai. Sharon, macht es dir etwas aus, wenn dir solche Fragen gestellt werden?«,
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