Ein Tag im Maerz
anderen zuhören und versuchen, selbst klarzukommen. Ich muss jemandem etwas verzeihen, aber ich kann es nicht … so viel kann ich sagen«, brachte sie unter Tränen hervor und klammerte sich an das Taschentuch, als wäre es eine Decke, hinter der sie sich verstecken konnte.
Bryony liefen die Schauer den Rücken hinunter, und wie von selbst schmolzen ihre negative Einstellung und ihr Zynismus dahin und wichen etwas Neuem: Faszination. Sie beugte sich vor und sah die Frau genau an, dann nahm sie den Kopf zurück, denn ihr wurde klar, wie offensichtlich ihre Neugier war. Doch schon im nächsten Moment wurde das Augenmerk von der Frau weg in die Mitte des Kreises gezogen.
»Okay, Sharon, sehr gut«, sagte Sol. »Niemand verlangt von dir, dass du über etwas sprichst, bei dem du dich unwohl fühlst.« Er rieb sich die Hände. »Nun haben wir unsere neuen Mitglieder begrüßt. Wir freuen uns, euch bei uns zu haben.« Er setzte sich auf den staubigen Fußboden und saß eine Ebene unter ihnen.
Das haben sie ihm wahrscheinlich auch auf der Psychoschule beigebracht, dachte Bryony. So eine Methode, die es uns erleichtern soll, mit ihm zu reden, oder so was. Wieder rollte sie ungeduldig mit den Augen, doch diesmal begegnete Mai ihrem Blick und sah sie strafend an, was Bryony etwas überraschte. Offenbar war ihr allzu deutlich anzumerken, wie wenig ernst sie die ganze Situation nahm. Rasch setzte sie eine neutrale Miene auf und versuchte sich zu konzentrieren.
»Vergebung ist eine interessante Sache«, sagte Sol. Beim Sprechen blickte er in seine offenen Hände. Wirklich charismatisch, der Bursche, dachte Bryony. »Was denken wir über Vergebung?«,fragte er und warf den Gedanken zu der Gruppe zurück, damit sie ihn halten und studieren, das Konzept ergründen konnte.
Sharon räusperte sich und hatte sofort die Aufmerksamkeit aller zurück. »Na, wenn es euch nichts ausmacht … ich glaube, Vergebung ist sehr wichtig. So wichtig, dass ich von mir selbst enttäuscht bin, weil ich es einfach nicht schaffe, zu vergeben«, sagte sie, blickte zur Decke hoch und atmete tief ein, als versuchte sie etwas unter Kontrolle zu halten.
»Ich finde Vergebung vollkommen unwichtig«, ertönte eine Stimme und durchschnitt das Schweigen wie eine Klinge.
Die Stimme gehörte Bryony. Es waren ihre eigenen Worte. Sie war entsetzt. Sie hatte es nicht aussprechen wollen.
Sharon blickte sie ernst an, die Augen groß und voll Tränen. »Aber warum?«, fragte sie nur.
»Es tut mir leid … ich möchte nicht grob sein. Ich finde nur …«, begann Bryony und bemerkte, dass sie gar nicht wusste, in welche Richtung sie argumentieren wollte. Ehe ihr der Satz über die Lippen kam, hatte sie nicht einmal geahnt, dass sie es so empfand. »Ich halte Vergebung für bedeutungslos«, sagte sie langsam. Sie tastete sich an das heran, was sie sagen wollte. »Jemand hat meinen Freund ermordet, und das lässt sich durch nichts wiedergutmachen. Er ist tot, für immer, und wenn ich den in die Arme nehmen würde, der es getan hat … Es nützt nichts, weil es zu spät ist. Nichts bringt ihn wieder zurück.« Ihr letzter Satz hallte in dem Raum wider.
Die Härchen auf ihren Armen hatten sich aufgestellt, als wäre etwas oder jemand in ihren Körper getreten und hätte sie irgendwie tief berührt. Ein Prickeln breitete sich über ihren ganzen Körper aus, und eine merkwürdige Energie erfüllte sie. Sie hatte so etwas in letzter Zeit mehrmals verspürt und angenommen, es wäre eine Nebenerscheinung ihrer inneren Angst.
»Aber was ist mit der Spiritualität?«, fragte Sharon. »Wasist mit dir? Liegst du nicht in der Nacht wach und sehnst dich nach einem Abschluss? Mir geht es nämlich so.« Sie betastete vorsichtig ihre geschwollenen Wangen. Bryony bemerkte, dass ihre Fingernägel minzgrün lackiert waren. Sie wirkte außerdem furchtbar dünn.
Lag Bryony nachts wach und wünschte sich einen Abschluss? Sie wünschte sich nur Max. Sie wünschte sich ihr altes Leben zurück und alles, was dazugehörte. »Ich glaube nicht, dass ich einen Abschluss will. Ganz ehrlich«, sagte Bryony aus tiefstem Herzen. »Meine Welt ist eingestürzt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich je wieder Freude am Leben habe. Selbst wenn ich einmal kurz froh bin, überfällt mich sofort die Traurigkeit und verfolgt mich. Wie könnte ich mich dem Kerl zuwenden, der meinem Freund das angetan hat, und mir, und ihm auch noch Trost geben, während ich bis zum Ende meines
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