Ein Tag im Maerz
fühlte sich schwach. Durcheinander. Sie war schon lange mit ihm zusammen. Bald hätten sie ihren ersten Hochzeitstag. Und da sah sie ihren Ehemann. Tom. »Großzügig«, »treu« und »sexy« waren die Wörter, mit denen er sich beschrieb.
Dieses arrogante Arschloch, dachte Sara.
Sie stürmte zurück zum Couchtisch, packte ihr Weinglas und kippte sich den Inhalt in die Kehle. Wie um alles in der Welt sollte sie damit umgehen?
5
Sie verabscheute Kohl.
Donnerstag, 12. März 2009
Ealing, West-London
21 Uhr
»Könntest du mir bitte das Salz reichen, Mum?«, fragte Rachel. Ihre wunderschön akzentuierte Sprechweise – das Produkt einer teuren Schule – stand im Widerspruch zu ihren achtlos auf den polierten Holztisch aufgestützten Ellbogen, der so sehr glänzte, dass sich fast jede Welle der altmodischen Stuckdecke darin spiegelte.
»Nimm bitte die Ellbogen vom Tisch«, erwiderte ihre Mutter knapp, ohne auf die Bitte einzugehen.
Ein zufälliger Beobachter hätte vielleicht nicht gewusst, dass Rachel die nächste große Hoffnung des Balletts war, es sei denn, er hätte sich unter dem Tisch ihre Füße angeschaut: angeschlagene Zehen säuberlich weiß verbunden, dazu die perfekte Krümmung ihres linken Fußes, der sich auch ohne Spitzenschuh nach einer nicht vorhandenen Bühne streckte, egal ob sie aß, saß oder sich einfach entspannte.
Überall merkte man ihr an, dass sie eine Ballerina war, wenn man ihre Füße beobachtete – wenn sie auf die U-Bahn wartete, gingen sie zum Beispiel automatisch in die IV . Position –, doch auch ihr Gesicht gab Hinweise, so verschlossen, wie es normalerweise wirkte, geprägt von Sorgen und Anstrengungen des Trainings. Ihre Körperhaltung war so anmutig, dass sie bewundernde Blicke auf sich zog, wann immer sie sich in der Öffentlichkeit zeigte. Zwischen den schlecht gelaunten Pendlern mit den unter dem Gewicht von Rucksäcken und übergroßen Handtaschen gebeugten Rücken stach Rachel heraus wie ein bunter Hund. Sie war schlank, aber kräftig, und trug zu den typischen schwarzen Leggings oft T-Shirts mit Rockband-Motiven. An diesem Abend verbarg sie ihre wunderbar geformten Arme in einem gewaltigen grauen Pulli.
»Rachel, Ellbogen. Ich möchte es nicht noch einmal sagen müssen.«
Rachel seufzte schwer. Sie nahm die anstößigen Körperteile vom Tisch und strich sich das lange blonde Haar stirnrunzelnd zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zurück. Dann beugte sie sich vor, nahm sich selbst das Salz und streute es auf ihr Essen.
»Du brauchst gar nicht so viel Salz, Rach. Das ist eine schlechte Angewohnheit«, sagte Rita Matthew ruhig. Ihr pechschwarzer Bubikopf glänzte im Licht der riesigen Lampe, die wie ein Heißluftballon geformt war und mitten im Zimmer von der Decke hing. Sie legte die Hände aneinander und hob sie vor ihren gespitzten Mund, sodass es einen Moment lang so aussah, als betete sie. Ihr hellgrüner Kaftan stand in Kontrast zu ihrem üppigen Goldschmuck – er passte sehr gut zu ihrem dunkelolivfarbenen Teint. Die schwarzen Wimpern flatterten, während sie das Gesicht ihrer Tochter musterte und ihr gleichzeitig den Salzstreuer entriss.
»Ich brauche es wohl. Ich bekomme neuerdings Krämpfe. Vom Salzmangel«, knurrte Rachel und krauste verärgert die Nase. Im Gegensatz zu ihrer Mutter war Rachel hellhäutig, wie ihr Vater, Edward, und bekam leicht einen Sonnenbrand. Obwohl sie müde aussah, war ihre Haut wie immer ohne den geringsten Makel und spannte sich über feine, beinahe scharfeZüge. Rachel war eine große blonde Balletttänzerin und atemberaubend schön.
»Na, wenn das so ist, dann musst du es Anneka sagen, und zwar bald. Schieb es nicht hinaus.« Ihr Ton wurde etwas wärmer, und sie schob den Salzstreuer ihrer Tochter wieder zu. Anneka war Rachels Vertrauensperson bei der Balletttruppe, eine spindeldürre ehemalige Ballerina mit dunklem Haar, das sie stets zu einem chaotischen nestartigen Knoten gebunden trug. Alles musste über Anneka laufen, angefangen bei medizinischem Rat bis hin zu den gefürchteten Krankmeldungen.
Rachel und Rita hatten eine Beziehung wie viele andere Mütter und Töchter auch. Sie zankten. Sie stritten sich. Aber vor allem hatten sie einander sehr lieb.
Rita wusste, dass Rachel normalerweise schon aus ihrem Elternhaus hätte ausziehen müssen, aber die Umstände waren eben alles andere als normal. Gerade in letzter Zeit war alles besonders schwierig gewesen; auf Rachel lastete großer Druck, seit sie so
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