Ein Tag im Maerz
Start. Der Sprung. Le grand jeté!
Rita ließ sie eine Weile in Frieden, dann folgte sie Rachel ins Wohnzimmer. Sie hatte Schuldgefühle, weil sie sich ständig einmischte, doch ihre Tochter war ihr zu wichtig. Das war alles. Sie setzte sich neben Rachel aufs Sofa und sah ihr zu, wie ihr die Tränen aus den Augen liefen. Einen Augenblick lang ließ sie auf sich wirken, wie schön das Profil ihrer Tochter war: eine niedliche kleine Nase und lange Wimpern. Sie war von der Natur gesegnet, aber Rita konnte nicht anders, sie musste sich wundern, woher dieser Segen kam … Dann bemerkte sie die violetten Schwellungen unter Rachels Augen.
»Es tut mir leid, Liebes«, sagte sie und versuchte zu lächeln, aber es frustrierte sie sehr, dass sie immer wieder über das Gleiche stritten.
Rachel blickte weiter auf den Bildschirm. Ihr Gefühlsausbruch war ihr peinlich, doch sie wünschte sich so verzweifelt, einmal alles herauslassen zu können.
»Was ist los?«, brach Rita erneut das Schweigen.
Rachel hatte auf einen Musikkanal geschaltet, aber der Ton warabgestellt. Über den Bildschirm zuckten Frauen, die an Swimmingpools auf Ibiza ihre knochigen Hüften kreisen ließen und sich an gut aussehende Rapper schmiegten, die absurd riesige falsche Brillanten trugen. Sie achtete auf nichts davon. Sie konnte es nicht einmal richtig erkennen. Nicht durch ihre Tränen.
»Gib mir mal deine Füße«, sagte Rita mit ihrer sanftesten Stimme.
Rachel blickte weiter auf den Bildschirm, aber sie schwang ihre Beine auf den Schoß ihrer Mutter. Ganz vergab sie ihr noch nicht. Ihre Zehen waren nacktes rotes Fleisch vom Spitzentanz, die Muskeln so verspannt, dass Rita beinahe jeden einzelnen von ihnen ertasten konnte. Rita hatte ihr immer die Füße massiert, seit Rachel zu tanzen begonnen hatte, in einem kratzigen Tutu, das so klein war, dass es einem Teddybären gepasst hätte. Als Rachels Talent immer vielversprechender erschien und ihre Ballettschuhe von Größe 1 zu Größe 5 wuchsen, hatte sich Rita mit den Techniken der Fußmassage befasst. Sie zog die Ballen hoch und streckte die Muskeln, grub die Daumen in den Spann und arbeitete sich nach oben vor.
Rachel verzog das Gesicht, und noch mehr Tränen fielen ihr aus den Augen. »Es tut mir leid.« Sie wischte sich die Wangen mit den Daumen ab. »Ich habe einfach so viel Druck. Und es ist einfach schrecklich, darauf zu warten, dass sie mir das mit der Rolle sagen. Ich mache es so gern, es bedeutet mir so viel … ich, ich …«
Sie wurden von Edward unterbrochen, der von der Arbeit kam und in makellosem schwarzen Anzug ins Zimmer platzte; sein leichter Wohlstandsbauch wölbte sich über den Gürtel. »Meine Mädchen«, sagte er laut mit wohlklingender Stimme und stellte den Aktenkoffer vorsichtig auf den Boden. Simba zuckte zusammen und schoss davon; er quetschte seinen Körper durch eine unglaublich kleine Lücke im Weinregal.
Rita wandte sich zu ihrem Mann um und bedachte ihn mit »dem Blick«. »Der Blick« wurde in dem geräumigen Haus auf der Elthorne Parade gut verstanden. Er bedeutete allgemein, dass Rachel entweder empört, verärgert, nervös oder alles auf einmal war; Letzteres war am schlimmsten.
Ed seufzte und verließ still das Wohnzimmer. In der Küche nahm er sich Abendessen und ein eimergroßes Glas Rotwein; er wusste, dass er sich in Momenten wie diesen am besten von den Frauen fernhielt. Er kam mit solchen Situationen nicht zurecht. Er verstand sich aufs Bankgeschäft, aufs Pendeln, auf Büropolitik – aber dem Druck, dem seine Tochter durch ihren kometenhaften Aufstieg ausgesetzt war, hatte er nichts entgegenzusetzen. Er überlegte, dass es stimmte, als man ihm sagte, wenn es gehe, gehe es schnell. Es war für alle ein Schock gewesen. Und er konnte nicht ganz glauben, dass seine Tochter, das Mädchen, das er mit vierzehn beim Rauchen ertappt und die er von Partys abgeholt hatte, weil sie nicht mehr stehen konnte, schon dafür bereit sein sollte.
Aber er redete nie davon. Nach außen hin musste er unerschütterliches Vertrauen in sie an den Tag legen. Er musste die Stimmungsschwankungen übersehen, die Stiefelabdrücke auf dem Teppich und den Zigarettengeruch in ihren Kleidern – diese andere Seite ihres Lebens war etwas, worüber niemand jemals sprach.
Es klopfte an der Haustür. Das Geräusch zerstörte den Augenblick zwischen Rita und Rachel.
»Ich mache auf«, sagte Rita. Sie löste ihren Griff um Rachels müde Füße und ging zur Tür. In dem
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