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Ein Tag im Maerz

Ein Tag im Maerz

Titel: Ein Tag im Maerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Thompson
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Tisch.
    Tynice schoss zu ihm hin. Sie rannte die winzige Strecke bis zum Tisch und nahm sein Gesicht zwischen die Hände. Sie zog es zu sich. Wie lange war es her, dass sie sein Gesicht so gehalten hatte. Normalerweise duckte er sich weg und schlug mit den Armen um sich, wenn sie oder seine Tanten versuchten, ihn zu küssen.
    »Fass mich nicht an, Mum. Halt die Finger bei dir«, sagte er, blickte zu ihr hoch und biss die Zähne aufeinander. Er sah aus, als hasste er sie, doch sie sollte noch erfahren, dass er sich selbst hasste.
    Sie nahm die Hände weg von seiner weichen Haut und setzte sich bedächtig. »Und wieso, Keon, wieso darf ich dich nicht anfassen?« Sie suchte seinen Blick und hoffte, dass in seinen klaren braunen Augen die Wahrheit zu finden war. Diesen Augen, mit denen er alle Mädchen in den Bann schlug, und die dann Tynice nervten, indem sie an der Tür klingelten, wenn sie gerade den Tisch zum Tee gedeckt hatte. »Wieso soll ich dich nicht anfassen?«, bellte sie unvermittelt, als ihre Sorge und ihre Angst urplötzlich in Wut und Enttäuschung umschlugen.
    Der Polizist, der mit ihnen im Raum stand, räusperte sich, und Tynice war sich seiner Gegenwart sogleich überdeutlich bewusst. Er stand so weit von ihnen entfernt, dass er sie nicht verstehen konnte, wenn sie flüsterten, deshalb senkte sie ihre Stimme und beugte sich zu Keon vor, bis ihr die schwachen Spuren des Rasierwassers, das er am Vorabend aufgetragen hatte, in die Nase stiegen.
    Auch er atmete heftig. Um seine Augen war die Haut geschwollen. »Ich hab was Furchtbares getan, Mum«, sagte er. Das Wasser lief ihm aus den Augen und landete auf dem Tisch. Er versuchte nicht einmal, es wegzuwischen.
    »Ich schwöre beim Herrn, Junge, wenn du es getan hast, wenn   … wenn   … wenn du diesem Mann das Leben genommen hast   …« Sie umklammerte Keons Unterarm und wünschte, dass alles nur ein Irrtum war.
    Er sah auf die Tischplatte, und mehr Tränen fielen schnell und landeten in der Pfütze, die sich darauf sammelte. Er begann zu beben. »Ich wollte es nicht tun«, flüsterte er. »Ich wollte ja gar nicht schießen, verdammte Scheiße, Mum. Das wollte ich nie.« Er zog die Schultern so sehr zusammen und hielt den Kopf so niedrig, dass Tynice die Buckel seiner Wirbelsäule in seinem Nacken sehen konnte.
    »O Gott, Keon   … wieso? Wieso hast du das getan?«, fragte sie und musste sich beherrschen, um nicht durch den Raum zu brüllen. So laut zu brüllen, dass sie vielleicht jemand hörte undihnen half; jemand, der die Zeit zurückdrehen und alles ungeschehen machen konnte.
    »Mum, ich weiß es nicht. Wir   – Steve und ich –, wir wollten nur einem Typen Angst machen, den wir kennen. Ich hab mir eine Pistole besorgt, aber ich wollte nie abdrücken. Ich weiß immer noch nicht, wieso ich abgedrückt habe, Mum. Ich weiß nicht, wieso   …«
    Ein kalter Schauer überkam sie, und sie fühlte sich unwohl. Sie stellte sich eine Pistole in seinen Händen vor. Aber er blieb trotzdem ihr Sohn.
    »Aber, weißt du   …«   – Keon brachte kaum die Worte hervor, und Tynice musste sich noch näher zu ihm beugen, um zu verstehen, was er sagte –, »am schlimmsten ist, dass wir nicht mal den erwischt haben, dem wir Angst machen wollten. Ich habe aus Versehen auf jemand anderen geschossen, aus Versehen, und auf einen Unschuldigen«, sagte er und sah wieder hoch. Rotz rann ihm aus der Nase und über die Lippe.
    Tynice hatte noch nie solche Angst in seinem Gesicht gesehen.
    »Und jetzt ist dieser Typ, wer er auch war, er ist tot, Mum. Und das ist meine Schuld   …« Er begann wieder zu weinen.
    »Hör auf zu heulen, Keon. Bitte, hör einfach auf zu heulen«, knurrte Tynice über den Tisch.
    Keon zuckte zusammen und sah sie ängstlich an. Er hatte Angst vor dem, was sie sagen oder tun mochte. Als wäre es für ihn das schlimmste Urteil, das ihn treffen konnte. Seit er zehn war, hatte er ihr keine Angst mehr gezeigt. Jeder Standpauke, die sie ihm gehalten hatte, war er mit Augenrollen oder Gelächter begegnet. Sie hatte gewusst, dass sie keine Kontrolle mehr über ihn besaß. Doch jetzt empfand Tynice Zorn. Zorn, weil er nicht nur sein Leben, ihr Leben und das Leben seiner Schwester ruiniert hatte, sondern auch das Leben eines Fremden und aller,die ihn kannten und liebten. Der Mann war vielleicht verheiratet gewesen, hatte vielleicht Kinder.
    »Ich werde es gestehen, Mum. Ich gehe dafür in den Knast«, sagte Keon. Sein Tränenfluss ließ ein wenig

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