Ein Tag im Maerz
das alles mit der ihr eigenen Mischung aus bolschewistischem Management und Liebe – die perfekte Mischung.
Keon war in der vergangenen Nacht nicht zu Hause gewesen, aber das kam mittlerweile oft vor. Er war schließlich achtzehn, und Tynice konnte ihn nicht mehr ständig beaufsichtigen. Er hatte ihr gesagt, dass er mit seinen Freunden nach Westfield fahren wolle, um neue Turnschuhe zu kaufen. Sie hatte ihm vierzig Pfund als vorzeitiges Geburtstagsgeschenk gegeben. »Ich brauche neue Treter, Mum«, hatte er gesagt, war durchs Haus gestürmt und hatte Orangensaft direkt aus dem Karton getrunken. So unwesentlich es war, es hatte ihr Sorgen gemacht. Kein Kind ihrer Freundinnen setzte sich vor seiner Mutter so unverschämt den Orangensaftkarton an den Hals. Es war nur eine Kleinigkeit, aber es hatte sie schon immer gestört. Es zeugte von einem großen Maß an Respektlosigkeit, bedeutete fast, dass er ihr den Mittelfinger zeigte, denn sie hatte ihn immer wieder gebeten, es sein zu lassen.
Als sie den Anruf erhielt, hatte ein automatischer mütterlicher Reflex bei ihr eingesetzt. Verleugnung.
Sie erhob sich. Es war Zeit, zur Polizeiwache zu gehen. Reb würde sie bei ihrer Nachbarin Jackie lassen. Sie würde niemandem sagen, wohin sie ging. Das ist nicht nötig, dachte sie, nicht, wenn alles ein Missverständnis ist.
Nachdem sie Reb zu Jackie gebracht hatte, stieg Tynice in denBus und stellte fest, dass ihr Herz raste, viel stärker als erwartet. Sie konnte an nichts anderes mehr denken, als dass sie Keon dort herausholen musste. Dass sie ihm eine gute Mutter sein und die Sache in Ordnung bringen musste. Diesen verrückten, absurden Schlamassel.
Tynice sank das Herz, als sie bemerkte, dass Fiona aus dem Frisiersalon, in den sie immer ging, vorn im Bus saß. Sie trug eine blaue Kapuzenjacke und schwarze Leggings. Tynice versuchte sich zu verstecken, in der kleinen Menschenmenge zu verschwinden, die im Gang stand. Sie wollte nicht, dass ihre Bekannte sie entdeckte. Sie wollte nicht erklären müssen, wohin sie wollte. Das hätte Schande über ihre Familie gebracht. Schande, die sie nicht gebrauchen konnten und die außerdem unverdient war.
Sämtliche Möglichkeiten schossen ihr wieder durch den Kopf, während der Bus vorankroch. Was, wenn Keon fälschlich für etwas verurteilt wurde, das er nicht getan hatte? Was, wenn es einer seiner Freunde gewesen war, und Keon hatte sich nur zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten und bekam nun die Schuld zugeschoben? Was würden die Leute in der Kirche sagen?
Kein einziges Mal zog sie in Erwägung, dass er die Tat begangen haben könnte.
Tynice glättete ihr dunkelblaues Kleid, als sie aufstand, und hielt sich an der knallgelben Stange am hinteren Ausstieg des Busses fest. Vor ihrem Taschenspiegel trug sie Lippenbalsam auf und musterte sich. Ihr dichtes, lockiges Haar war zu einem Knoten zurückgebunden. Sie bemerkte, dass sie ein wenig müde aussah, aber das hatte sie mit ihrem Make-up recht gut kaschiert. Sie sah ganz okay aus, trotz allem. Eine junge, respektable Mutter, die ihren Jungen zu einem anständigen jungen Mann erzogen hatte.
Der Busfahrer bremste ständig zu scharf, und das reizte ihre bereits angespannten Nerven. Deshalb stieg sie zwei Haltestellen zu früh aus und wandte den Kopf vom Bus ab in der Hoffnung, dass Fiona sie nicht entdeckte und hinter ihr hergeeilt kam wie üblich. Sie ging mit raschen Schritten, denn es hatte wieder zu regnen begonnen. Nach ein paar Minuten erreichte sie die Polizeiwache.
Das war der Moment, wo Tynice weiche Knie bekam. Keon war dort drin, eingesperrt wie ein Tier.
Tynice stieg die Stufen zum Eingang der Polizeiwache hoch und durchquerte blind einen kleinen Empfangsraum. Sie bemerkte kaum, dass er voller anderer Menschen war, und konzentrierte sich ganz darauf, den Anmeldeschalter gegenüber dem Eingang zu erreichen.
Kaum stand sie davor, als ihr Mutterinstinkt sie übermannte. Er ließ sie so rasch atmen, dass sie schon glaubte, sie würde ohnmächtig. Ihr war, als stehe jemand hinter ihr, quetschte ihre Rippen, engte sie ein. »Ich möchte meinen Jungen sehen. Keon Hendry«, sagte sie atemlos und spürte, wie ihr ein Regentropfen an der Stirn hinunterlief. Sie wischte ihn mit dem Handrücken ab, und ihre Armreifen klirrten aneinander.
Die Beamtin hinter dem Schalter war totenblass. Im Kunstlicht wirkte sie wie ein Vampir, und ihr Gesicht sah über dem gestärkten weißen Uniformhemd aus, als bestehe es aus
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