Ein Tag ohne Zufall
Seth das Ganze noch mal durchmachen muss, und auch wenn wir an keiner Herde vorbeifahren und irgendwann wieder im Internat ankommen … Lucky kann dort nicht bleiben, und Seth muss sich auf jeden Fall von ihm verabschieden.
Seth schaut stur geradeaus. Denkt er dasselbe wie ich?
Oder kann der heutige Tag
doch
noch ein gutes Ende nehmen? Ich habe so etwas gespürt, als ich das Kalenderblatt abgerissen habe. Als eine Wolke vorübergezogen ist, die keiner außer mir gesehen hat. Ein Tag, an dem alles ist, wie es sein soll … Bis jetzt hat es geklappt. Womöglich ist es sogar ein Tag, an dem ich eine andere bin als sonst. Ein Tag, an dem Seth, Mira und Aidan mehr über mich erfahren als in Hedgebrook, wo ich eine Meisterin darin bin, unauffällig auf Abstand zu bleiben. Ein Tag, an dem ich eine echtere Destiny bin als das Mädchen mit dem Affenherzen, Shakespeares letzte lebende Nachfahrin.
16
Wir erreichen den Stadtrand von Langdon. Die vereinzelt stehenden Wohnhäuser und kleinen Ansammlungen von Läden rücken immer näher zusammen. In meinen Schläfen hämmert das Blut. Erkenne ich etwas wieder? Einen Laden? Ein Haus, in dem ich damals zu Besuch war?
Farben.
Ein Wirrwarr aus farbigen Fetzen, die viele, viele Jahre tief in mir drin verborgen lagen, steigt an die Oberfläche. Oder sind die Erinnerungen zu etwas Neuem verschmolzen, das es so nie gegeben hat? Zu Farben, die nie so waren? Ziegelrot, Graublau, Silbergrau. Vor allem Grau. Meine verschwommenen Erinnerungen an Langdon.
Ein paar hundert Meter geradeaus steht eine Villa im viktorianischen Zuckerbäckerstil. Sie ist dunkellila gestrichen wie eine reife Pflaume. Die kunstvollen Holzschnitzereien sind teils knallrosa, teils hellgrün, teils himmelblau angemalt, als hätte sich der Maler nicht für eine Farbe entscheiden können. Ein großes Schild verkündet stolz:
Bei Babs: Antiquitäten, First class Secondhandkleidung, Pfauenzucht.
Seth sagt lachend: »Bei dieser Babs gibt es anscheinend alles.«
»Wer kauft sich denn einen Pfau?«, meint Aidan verwundert.
»Pfauen kann man nicht essen, oder?«, kommt es von Mira.
»Klamotten!«, rufe ich. »Da können wir unsere Schuluniformen loswerden, bevor wir richtig nach Langdon reinfahren.«
Seth dreht sich zu mir, wahrscheinlich, weil ich so laut gesprochen habe. Er fährt langsamer und biegt auf den unbefestigten Parkplatz ab.
Aidan fragt skeptisch: »Wartet mal – wird diese Secondhandkleidung eigentlich gewaschen, bevor die Sachen weiterverkauft werden?«
Unser Auto ist das einzige auf dem Parkplatz. Kaum hat Seth angehalten, landet ein Riesenvogel auf der Kühlerhaube und plustert sich vor der Windschutzscheibe auf. Er ruckt mit dem Kopf und glotzt uns an. Der Wind zerzaust das Federbüschel auf seinem Kopf. Mira hält erschrocken die Luft an.
»Was machen wir jetzt?«, fragt Seth flüsternd.
»Glaubt ihr, er geht auf uns los, wenn wir aussteigen?«, fragt Aidan.
»Guckt mal, was er für Krallen hat!«, sagt Mira ängstlich.
Das Halsgefieder des Vogels schillert bläulich, sein plumpes Hinterteil ist eher grünlich.
»Wo hat er denn seine Schwanzfedern gelassen?«, wundert sich Seth.
»Die hat ihm offenbar jemand ausgerupft.« Ich deute mit dem Kinn auf die Veranda. Dort stehen lauter große Körbe voller Federn mit den typischen Augen am Ende.
Der Vogel hüpft auf die Dachleiste gleich über der Windschutzscheibe.
Jaa-uuuuuuuf!
Wir erschrecken uns fast zu Tode und steigen schleunigst aus.
Määäh!
Lucky ist aus seinen Lämmchenträumen erwacht. Seth hebt ihn aus dem Auto und klemmt ihn unter den Arm, dann rennen wir zur Veranda rüber und die Treppe hoch.
Die Haustür geht auf.
»Pete! Komm sofort da runter! Du verschreckst mir ja die Kunden!«, schimpft die Frau. Sie ist lang und dünn wie eine Bohnenstange. Sie wedelt mit dem Arm, und der Vogel hüpft auf die Erde. Die Frau sagt schmunzelnd: »Pete meint es nicht so. Er macht sich einen Spaß daraus, uns federloses Volk zu schikanieren. Er tut nichts. Meistens.«
»Ist ja prima, dass er seinen Spaß mit uns hatte. Dafür stehen wir natürlich gern zur Verfügung«, entgegnet Seth.
»Ihr könnt ja warten, bis der nächste Kunde kommt. Dann habt ihr auch was zu lachen.«
»Sind Sie Babs?«, frage ich.
»Die bin ich!« Sie winkt uns ins Haus. »Schaut euch nach Herzenslust um. Wir haben so ziemlich alles, was man sich wünschen kann.«
»Allerdings.« Aidan sagt es weniger zu ihr als vor sich hin und fährt mit dem Zeigefinger über
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