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Ein Tag ohne Zufall

Ein Tag ohne Zufall

Titel: Ein Tag ohne Zufall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pearson Mary E.
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gezweifelt? Schon gar nicht eine Sechsjährige, die sich der ungeteilten Aufmerksamkeit ihrer Eltern stets sicher war. Darum hatte ich auch nicht mit irgendwelchen Veränderungen nach der Geburt des Babys gerechnet. Ich habe meinen Bruder sogar schon als
mein Baby
bezeichnet, als er noch bei meiner Mutter im Bauch war, weil ich nämlich davon ausging, dass meine Eltern ihn bekamen, um mir eine Freude zu machen. Und ich freute mich. Ich freute mich wirklich. Ich habe Gavin nie vorgeworfen, dass er mich aus meiner Vormachtstellung verdrängt hat.
    Gavin war ein kerngesundes Kind. Zumindest äußerlich. Er hatte ein rundes Pausbackengesicht mit einem süßen rosa Mündchen. Aber vor allem sehe ich seine Fingernägel vor mir – wunderschöne, papierdünne Nägel wie kleine Muscheln. Er schloss die Faust um meinen hingestreckten Finger und drückte fest zu, was ich noch viel lustiger fand, als ihn im Kinderwagen zu schieben.
    Sogar mein letzter Wunsch galt ihm.
    Ich erinnere mich an meinen letzten Geburtstag. Beziehungsweise den letzten Geburtstag, den ich zusammen mit meiner Mutter feierte. Gavin brüllte und ließ sich nicht beruhigen. Mama wollte sich um ihn kümmern, deshalb beeilte sie sich ziemlich mit der Feier. Bevor wir zusammen die Kerzen auf der Torte ausbliesen, nahmen wir uns an den Händen und wünschten uns etwas. »Man darf aber nicht verraten, was man sich gewünscht hat, sonst geht es nicht in Erfüllung«, hatte Mama vorher gesagt. Ich verriet nichts. Ich war ein braves Mädchen. Ich verriet niemandem etwas. Der Wunsch ging trotzdem nicht in Erfüllung. Vielleicht lag es ja daran, dass wir nicht an meinem richtigen Geburtstag feierten, sondern einen Tag vorher, weil meine Eltern am nächsten Tag mit Gavin verreisen wollten. Gavin war nämlich krank. Ich begriff nicht, warum sie nicht einfach mit ihm zu meinem Kinderarzt gingen, der mich auch untersuchte, wenn ich nur erkältet war, aber Gavin hatte einen ganz besonderen Arzt, der nur an diesem einen Tag, meinem Geburtstag, einen Termin frei hatte und viele Flugstunden weit weg wohnte. Auf mich machte Gavin keinen kranken Eindruck, aber meine Eltern haben mir jedenfalls diese Geschichte aufgetischt. Prima Vorwand.
    Am nächsten Tag trotzte und schmollte ich, was meine Eltern aber nicht daran hinderte, mich an meinem Geburtstag allein zu lassen. Sie waren nur mit Gavin beschäftigt, ihnen fiel gar nicht auf, wie sauer ich war. Ich kam auch nur mit zum Flughafen, weil mein Kindermädchen sie hinfahren musste. Ist doch kein Wunder, dass ich dem Baby da keinen Abschiedskuss geben wollte, oder? Aber meine Eltern nahmen es mir übel. Sie haben es mir nie verziehen und lassen mich heute noch dafür büßen. Anders gesagt: Sie haben mich einfach
vergessen
. Ja, das trifft es besser. Vielleicht war es mir aber auch vorherbestimmt, verstoßen zu werden. Wer weiß, womöglich haben sie Gavin inzwischen ja auch verstoßen und sich ein neues Lieblingsspielzeug gesucht, eines, das niemals schreit oder ungezogen ist. Eines, das möglichst unsichtbar bleibt, so wie ich all die Jahre versucht habe, mich unsichtbar zu machen.
    Seit jenem Geburtstag habe ich mir nie mehr etwas gewünscht. Heute ist eine Ausnahme. Ich habe mir einen Tag gewünscht, an dem alles ist, wie es sein soll, als Ausgleich für sämtliche Ungerechtigkeiten dieser Welt. Dabei weiß ich doch nur zu gut, dass sich das Schicksal nicht um Gerechtigkeit schert.

19
    Wir fahren auf die rostige Eisenbrücke zu, die nach Langdon hineinführt. Der modrige Geruch des Flusses und das
Rumms-rumms-rumms
, wenn man über die Brücke fährt, sind meine deutlichsten Erinnerungen an Langdon. Hinter den sich überkreuzenden Eisenstreben taucht eine Mini-Skyline auf. Die Stadt ist doch größer, als ich sie in Erinnerung hatte, oder ist sie in der Zwischenzeit gewachsen?
    Mira klatscht in die Hände. »Wir sind gleich da! Wie wär’s mit noch einem Geheimnis, Des? Deine letzte Chance!«
    Letzte Chance.
Mach den Sack zu. Sei kein Spielverderber.
    Nachdem ich mich jahrelang bewusst aus allem rausgehalten habe, fällt mir das Mitspielen schwer. Ach, erzähl ihnen einfach irgendwas. Ist doch nur ein Spiel. Außerdem ist es sonst ungerecht. Ich sprudele drauflos, ehe mir Vorsicht und Vernunft ins Wort fallen können. »Ich habe einen Bruder. Er wohnt hier in Langdon. Und meine Eltern auch.«
    »Hab ich’s mir doch gedacht«, sagt Seth halblaut.
    »Wie bitte?«
Aidans Ton ist so argwöhnisch, als hätte ich ihn bis jetzt

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