Ein Tag wie ein Leben
uns beide, Wilson. Als die Kinder
aus dem Haus gingen, waren sie ja nicht mehr nur unsere Kinder,
sondern auch so etwas wie Freunde. Wir haben uns schrecklich allein
gefühlt, einsam und verlassen, und eine Zeit lang wussten wir nicht
viel miteinander anzufangen.«
»Davon hast du noch nie gesprochen.«
»Du hast mich noch nie danach gefragt«, entgegnete er. »Ich habe
die Kinder sehr vermisst, aber ich denke, für Allie war es noch viel
schlimmer. Sie war zwar Malerin, aber zuerst und vor allem war sie
Mutter, und als die Kinder fort waren, wusste sie gar nicht mehr richtig, wer sie ist. Zumindest eine Zeit lang.«
Ich versuchte, mich in Allies Lage hineinzuversetzen, aber es wollte mir nicht gelingen. So hatte ich meine Schwiegermutter nie gesehen.
»Warum war das so?«, fragte ich.
Statt zu antworten, musterte Noah mich von oben bis unten. Dann
fragte er: »Hab ich dir schon mal von Gus erzählt? Er hat mich immer besucht, als ich das Haus renovierte.«
Ich nickte. Gus war mit Harvey verwandt, dem schwarzen Pastor,
den ich öfter aus der Ferne sah, wenn ich zu Noahs Haus fuhr.
»Tja, der gute alte Gus«, begann Noah, »er liebte verrückte Geschichten. Je komischer, desto besser. Manchmal saßen wir abends
draußen auf der Veranda und erzählten uns gegenseitig wilde Anekdoten, bis wir vor Lachen nicht mehr konnten. Im Laufe der Jahre
haben wir uns die tollsten Geschichten erzählt - aber willst du wissen, welcher Satz mir am allerbesten gefallen hat? Dieser Satz war
das Verrückteste, was Gus je von sich gegeben hat. Damit du das
richtig einordnen kannst, musst du wissen, dass Gus ein halbes Jahrhundert lang mit derselben Frau verheiratet war. Sie hatten acht Kinder. Die beiden sind gemeinsam durch dick und dünn gegangen. Und
immer Hand in Hand. Also, wir saßen eines Abends wieder mal
draußen, erzählten uns dies und jenes, bis Gus plötzlich verkündete:
›Ich muss euch was sagen.‹ Er holte tief Luft, sah mir in die Augen
und erklärte mit feierlicher Miene: ›Noah, ich verstehe die Frauen‹«
Noah lachte leise in sich hinein. »Dabei gibt es keinen einzigen
Mann auf der Welt, der diesen Satz sagen und ihn tatsächlich ernst
meinen kann. Es ist schlicht unmöglich, die Frauen zu verstehen.
Man braucht es gar nicht erst zu versuchen. Was allerdings nicht
heißt, dass man sie nicht trotzdem lieben kann. Und es heißt auch
nicht, dass wir je aufhören sollten, ihnen zu sagen, wie wichtig sie
für uns sind.«
Ich beobachtete, wie der Schwan die Flügel schüttelte. Was wollte
Noah mir mit dieser Geschichte sagen? Im letzten Jahr hatte er immer wieder in solchen Gleichnissen mit mir über Jane gesprochen.
Nie hatte er einen konkreten Ratschlag gegeben, er hatte mir kein
einziges Mal gesagt, was ich tun solle. Dabei war ihm sonnenklar
gewesen, dass ich seine Unterstützung brauchte.
»Ich glaube, Jane wünscht sich, ich wäre mehr wie du«, sagte ich.
Noah grinste. »Nicht übel, Wilson«, sagte er. »Wirklich, gar nicht
übel.«
Bis auf das Ticken der Standuhr und das gleichmäßige Summen der
Klimaanlage war es still im Haus. Als ich meine Schlüssel auf die
Ablage im Wohnzimmer legte, fiel mein Blick auf die Bücherregale
rechts und links vom Kamin. Vor den Büchern standen lauter Familienfotos, die im Laufe der Jahre entstanden waren. Wir fünf in Jeans
und blauen Hemden, vor zwei Jahren im Sommer. Ein Foto vom
Strand bei Fort Macon, als die Kinder Teenager waren, ein drittes,
auf dem sie noch jünger waren. Dann die Fotos, die Jane gemacht
hatte: Anna in ihrem Abschlussballkleid, Leslie in ihrem Cheerleader-Outfit, ein Bild von Joseph mit unserem Hund Sandy, der leider
vor ein paar Jahren im Sommer gestorben ist. Auf manchen Bildern
waren die drei noch Babys, und obwohl die Fotos nicht chronologisch angeordnet waren, konnte man an ihnen doch ablesen, wie sich
unsere Familie im Laufe der Zeit verändert hatte. In der Mitte des
Regals direkt über dem Kamin stand ein Schwarzweißfoto von Jane
und mir an unserem Hochzeitstag. Allie hatte das Bild auf den Stufen
zum Standesamt gemacht. Selbst bei einem Schnappschuss wie diesem konnte man ihre künstlerische Begabung erkennen. Jane zeigte
sich wie immer sehr fotogen, aber auch zu mir war die Kamera an
jenem Tag durchaus freundlich gewesen. Am liebsten hätte ich mir
eingeredet, dass ich immer so aussah, wenn ich neben Jane stand.
Eigenartigerweise gab es auf den Regalen sonst kein einziges Bild
von Jane und mir als
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