Ein Tag wie ein Leben
zum Teich. Als ich Noah entdeckte,
schüttelte ich den Kopf - trotz der Hitze trug er wie immer seine
blaue Strickjacke. Noah war der einzige Mensch, der an einem Tag
wie diesem frieren konnte.
Er hatte gerade den Schwan gefüttert, der am Rand des Teichs
kreiste. Beim Näherkommen hörte ich, dass Noah mit ihm sprach,
aber ich konnte nichts verstehen. Der Schwan wirkte sehr zutraulich.
Noah hatte mir einmal erzählt, dass er sich oft zu seinen Füßen niederließ, was ich selbst allerdings noch nie beobachtet hatte.
»Guten Tag, Noah«, sagte ich.
Es fiel ihm schwer, den Kopf zu drehen. »Hallo, Wilson.« Er hob
die Hand. »Wie nett, dass du vorbeischaust.«
»Wie geht’s denn so?«
»Könnte besser sein«, antwortete er. »Könnte aber auch wesentlich
schlechter sein.«
Ich kam zwar oft nach Creekside, aber manchmal fand ich es doch
recht deprimierend. Hier lebten viele Menschen, bei denen man den
Eindruck gewinnen konnte, die Welt habe sie vergessen. Die Ärzte
und Krankenschwestern sagten öfter zu uns, Noah habe Glück, weil
er so häufig Besuch bekomme, wohingegen die Mehrzahl der anderen Senioren den ganzen Tag vor dem Fernseher verbrächte, um der
Einsamkeit zu entrinnen. Noah hatte sich angewöhnt, den Leuten, die
hier lebten, abends ein paar Gedichte vorzulesen. Sein Lieblingsdichter war Walt Whitman, und dessen Gedichtesammlung Grashalme lag auch jetzt neben ihm auf der Bank. Er ging eigentlich nie ohne
dieses Buch aus dem Haus. Jane und ich haben es ebenfalls gelesen,
aber ich muss gestehen, so ganz verstehe ich bis heute nicht, was
Noah an diesen Gedichten so gut gefällt.
Wieder einmal wurde mir bewusst, wie schwer es mir fiel, zu akzeptieren, dass Noah tatsächlich ein alter Mann geworden ist. Wie
schon erwähnt, litt er öfter an Atemnot, und seine linke Hand konnte
er seit dem Schlaganfall im Frühjahr nicht mehr richtig bewegen. Im
Grunde verabschiedete er sich nach und nach von der Welt, was wir
ja schon lange wussten, doch jetzt schien er es auch selbst zu spüren.
Ich setzte mich zu ihm, und gemeinsam beobachteten wir nun den
majestätischen Vogel mit dem rätselhaften schwarzen Fleck auf der
Brust, der mich immer an ein Muttermal oder an ein Stück Kohle im
Schnee erinnerte - der Versuch der Natur, die Perfektion zu unterwandern. Eigentlich lebten zu bestimmten Jahreszeiten mehr als
zwölf Schwäne auf dem Teich, aber dieser hier war der einzige, der
nie wegging. Ich hatte ihn schon bei eisigen Wintertemperaturen hier
gesehen, wenn die anderen Schwäne längst gen Süden gezogen waren. Noah hatte mir einmal erklärt, warum dieser Schwan immer bei
ihm blieb, und diese Erklärung war eine der Ursachen, weshalb die
Ärzte ihn für nicht mehr ganz zurechnungsfähig hielten.
Nach einer Weile erzählte ich ihm, was sich am Abend zuvor zwischen Anna und Jane abgespielt hatte. Als ich mit meiner Geschichte
fertig war, musterte mich Noah mit einem vielsagenden Grinsen.
»Jane war nicht allzu begeistert, was?«, fragte er.
»Stimmt.«
»Sie möchte, dass das Fest nach ganz bestimmten Spielregeln verläuft?«
»Ja, klar.« Ich berichtete von der Liste, die sie aufgestellt hatte.
Dann erst erzählte ich ihm von meiner eigenen Idee - ich fand nämlich, dass Jane etwas übersehen hatte.
Mit seiner gesunden Hand tätschelte Noah mein Bein, um sein Einverständnis zu signalisieren.
»Was ist mit Anna?«, wollte er dann wissen. »Geht’s ihr gut?«
»Ich denke schon. Ich glaube, Janes Reaktion hat sie nicht weiter
beeindruckt.«
»Und Keith?«
»Ihm geht es auch gut. Jedenfalls laut Anna.«
Noah nickte. »Ein sehr nettes junges Paar, die beiden. Sie sind beide gute Menschen. Sie erinnern mich an Allie und mich selbst.«
Ich lächelte. »Das muss ich unbedingt Anna sagen. Es freut sie bestimmt - sie legt nämlich großen Wert auf dein Urteil.«
Für eine Weile schwiegen wir beide. Dann sagte Noah, mit einer
Kopfbewegung zum Wasser hin:
»Wusstest du, dass Schwäne ihr ganzes Leben einem einzigen Partner treu bleiben?«
»Ich dachte immer, das sei ein Mythos.«
»Nein, es stimmt. Allie fand das unglaublich romantisch. Für sie
war das der Beweis dafür, dass die Liebe tatsächlich eine Himmelsmacht ist. Ehe wir geheiratet haben, war sie ja mit einem anderen
verlobt. Das weißt du doch, oder?«
Ich nickte.
»Hab ich mir’s doch gedacht. Na ja, jedenfalls hat sie mich besucht,
ohne es ihrem Verlobten zu sagen, und ich bin mit ihr im Kanu zu
einer Stelle im See gepaddelt, wo wir
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