Ein Tag wie ein Leben
Stimme zu reden.
»Es geht ihm gut. Ich habe ihn gestern im Krankenhaus besucht.
Und heute Morgen habe ich noch einmal mit dem Arzt gesprochen.
Morgen wird er entlassen und kommt wieder hierher.«
Der Schwan schien über meine Worte nachzudenken. Und dann geschah etwas, womit ich nie gerechnet hätte. Mir lief ein Schauer über
den Rücken - der Schwan begann zu fressen.
Im Krankenhaus dachte ich zuerst, ich hätte mich in der Tür geirrt.
Ich kenne Noah jetzt schon seit so vielen Jahren, aber ich habe noch
nie erlebt, dass er fernsieht! Zu Hause hatte er zwar einen Fernsehapparat, aber der war vor allem für die Kinder gedacht gewesen, solang sie noch klein waren. Und als ich in sein Leben trat, wurde er
nur noch selten angemacht. Die Abende verbrachte man meistens auf
der Veranda, man erzählte sich Geschichten, manchmal wurde gesungen, und Noah spielte dazu Gitarre, oder man saß einfach nur
beisammen, plauderte oder horchte auf das Zirpen der Grillen und
Zikaden. An kühleren Abenden machte Noah ein Feuer im Kamin,
und die Familie verlegte ihre Aktivitäten ins Wohnzimmer. Manchmal machte es sich jeder in einer anderen Ecke des Raumes mit einem Buch bequem - auf dem Sofa oder in einem der Schaukelstühle.
Dann hörte man nur das leise Rascheln, wenn jemand eine Seite umblätterte.
Es war wie eine Szene aus einer längst vergangenen Zeit, als es
noch das Wichtigste im Leben war, dass man Zeit mit der Familie
verbrachte, und ich hatte mich immer sehr auf diese Stunden gefreut.
Sie erinnerten mich an die Abende mit meinem Vater, wenn er seine
Schiffe baute. Mir war klar, dass vielen Menschen das Fernsehen als
eine Art Zuflucht diente, obwohl es doch eigentlich nichts Beruhigendes oder Friedliches hat. Noah war dem Sog immer entkommen -
bis zu jenem Morgen.
Schon als ich die Tür öffnete, schlug mir das Geplapper aus dem
Fernseher entgegen. Noah saß im Bett, ein Kissen im Rücken, und
starrte gebannt auf den Bildschirm. Er bemerkte gar nicht, dass ich
die Dinge in der Hand hielt, die ich aus seinem Schreibtisch genommen hatte.
»Guten Tag, Noah«, sagte ich, aber er antwortete nicht wie sonst,
sondern schüttelte nur ratlos den Kopf.
»Komm mal her«, sagte er und winkte mich zu sich. »Du wirst es
nicht glauben, was da läuft.«
Ich trat näher. »Was guckst du dir an?«
»Keine Ahnung«, sagte er, den Blick wieder auf die Mattscheibe
gerichtet. »Irgendeine Talkshow. Ich dachte, es sei etwas Seriöses, so
wie Johnny Carson, aber das stimmt nicht. Du kannst dir nicht vorstellen, worüber diese Leute reden.«
Ich dachte natürlich gleich an diese vulgären Sendungen, bei denen
ich mich immer frage, wie ihre Produzenten nachts ruhig schlafen
können. Und tatsächlich hatte er einen der entsprechenden Sender
eingestellt. Ich brauchte gar nicht hinzuhören, um zu erfahren, worum es ging - die Themen waren alle gleichermaßen widerlich, alles
wurde möglichst sensationell aufgebauscht, und für die Gäste gab es
nur ein Ziel: Sie wollten unbedingt im Fernsehen auftreten, gleichgültig, wie gnadenlos sie gedemütigt und lächerlich gemacht wurden.
»Warum guckst du ausgerechnet dieses Programm?«
»Ich hatte doch keine Ahnung!«, schimpfte er. »Ich wollte Nachrichten sehen, aber als ich den Fernseher anmachte, kam gerade
Werbung, und schon fing dieser Quatsch an. Aber dann konnte ich
nicht mehr abschalten. Es ist wie bei einem Unfall auf der Autobahn
- man muss einfach hinsehen.«
Ich setzte mich auf die Bettkante. »Ist es denn so schlimm?«
»Ich sag’s mal so: Ich möchte heutzutage nicht jung sein. Mit unserer Gesellschaft geht es rapide bergab, und ich bin froh, dass ich
nicht mehr hier sein werde, wenn der Aufprall kommt.«
Ich lächelte. »Du klingst wie ein alter Mann, Noah.«
»Kann schon sein, aber das heißt nicht, dass ich Unrecht habe.« Er
griff zur Fernbedienung. Gleich darauf war es still im Zimmer.
Ich legte die mitgebrachten Sachen auf sein Bett.
»Ich dachte, du könntest dir vielleicht hiermit ein bisschen die Zeit
vertreiben. Sofern du nicht doch lieber fernsehen möchtest.«
Er strahlte, als er das Päckchen Briefe und Whitmans Grashalme sah. Zärtlich strich er über den ramponierten Umschlag. »Du bist ein
feiner Kerl, Wilson«, sagte er. »Ich nehme an, du warst gerade am
Teich?«
»Vier Scheiben am Morgen«, informierte ich ihn.
»Wie geht es ihr?«
Ich setzte mich anders hin. Was sollte ich antworten?
»Ich glaube, du fehlst ihr«, sagte ich schließlich.
Er
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