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Ein Tag wie ein Leben

Ein Tag wie ein Leben

Titel: Ein Tag wie ein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Sparks
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verärgert, sondern einfach nur müde.
Innerlich musste ich lächeln. Wie konnte sich Jane immer noch über
das Verhalten ihrer Tochter wundern?
    Nachdem ich aufgelegt hatte, fuhr ich nach Creekside, um den
Schwan zu füttern. Abends drei Scheiben Wonderbread, so lautete
Noahs Anweisung. Auf dem Heimweg schaute ich noch kurz in meinem Büro vorbei.
    Ich parkte wie immer direkt vor dem Gebäude. Mein Blick fiel auf
das Chelsea auf der anderen Straßenseite. Dem Restaurant gegenüber
befand sich eine kleine Grünfläche, wo im Winter jedes Jahr die
Weihnachtsstadt aufgebaut wurde. Obwohl ich jetzt schon seit dreißig Jahren in dieser Kanzlei arbeite, versetzt es mich immer wieder
in Erstaunen, wie stark die ersten Anfänge des Staates North Carolina hier allenthalben präsent sind. Die Vergangenheit besitzt für mich
schon immer eine ganz spezielle Anziehungskraft, und es begeistert
mich, dass ich nur eine Straße weiter gehen muss, um die erste katholische Kirche zu sehen, die in North Carolina gebaut wurde, oder
um die erste öffentliche Schule zu besichtigen und zu erfahren, wie
die Kinder der Siedler unterrichtet wurden. Ich kann auch über das
Gelände des Tyron Palace, der ehemaligen Residenz des Kolonialgouverneurs, schlendern, das heute eine der schönsten Gartenanlagen
in den Südstaaten ist. Ich bin nicht als Einziger stolz auf diese Stadt.
Die »Historische Gesellschaft« von New Bern gehört zu den aktivsten in den USA, und fast an jeder Ecke dokumentieren Plaketten,
welche zentrale Rolle New Bern schon gleich nach der Staatengründung spielte.
    Das Gebäude, in dem sich unsere Kanzlei befindet, gehört meinen
Partnern und mir. Es wurde in den späten fünfziger Jahren gebaut,
also in einer Zeit, als Funktionalität das höchste Prinzip für die Architekten war. Das heißt, es ist ein absolut langweiliger Bau. Ein
einstöckiges Haus, Backsteine, rechteckig - aber genügend Platz für
die vier Partner und ihre Teilhaber. Drei Sitzungszimmer, ein Raum
für die Akten und der Bereich, wo die Klienten warten.
    Ich schloss die Tür auf. Gleich ertönte die Warnung, in weniger als
einer Minute werde der Alarm ausgelöst. Schnell gab ich den Code
ein, um die Anlage abzustellen, machte im Wartebereich Licht und
ging in mein Büro.
    Wie die Räume meiner Partner besitzt auch mein Büro eine gewisse
förmliche Eleganz, die unsere Klienten erwarten: ein Schreibtisch
aus dunklem Kirschholz mit einer Messinglampe, juristische Bücher
in den Regalen, zwei bequeme Ledersessel vor dem Schreibtisch.
    Als Anwalt für Erbschaftsangelegenheiten bin ich im Laufe der Zeit
vermutlich schon jedem Typ von Paar begegnet, den es auf der Welt
gibt. Die meisten Leute sind relativ normal, aber mir saßen auch
schon Paare gegenüber, die plötzlich anfingen, zu schimpfen wie die
Rohrspatzen und sich gegenseitig anzuschreien. Einmal hat sogar
eine Frau ihrem Ehemann heißen Kaffee in den Schoß gekippt. Und
sehr viel öfter, als ich erwartet hätte, kommt es vor, dass mich ein
Ehemann beiseite nimmt und fragt, ob er eigentlich gesetzlich verpflichtet sei, seiner Ehefrau etwas zu hinterlassen, oder ob er sie zugunsten seiner Geliebten enterben könne. Diese Paare, das möchte
ich ergänzend hinzufügen, sind in der Regel makellos gekleidet und
wirken durchaus seriös, wenn sie mein Büro betreten, aber wenn sie
es endlich wieder verlassen, frage ich mich oft, was sich wohl bei
ihnen zu Hause hinter verschlossenen Türen abspielt.
    Ich trat an meinen Schreibtisch und suchte nach dem Schlüssel für
die Schublade. Dann legte ich mein Geschenk für Jane auf den
Schreibtisch und betrachtete es. Wie würde sie reagieren? Ich war
mir ziemlich sicher, dass es ihr gefallen würde, aber ich bezweckte ja
vor allem eins damit: Ich wollte mich mit diesem Geschenk von ganzem Herzen dafür entschuldigen, dass ich in den Jahren unserer Ehe
oft so gedankenlos, so unaufmerksam und blind gewesen war. Ich
wollte mich für den arbeitswütigen Mann entschuldigen, den sie hatte ertragen müssen.
    Doch trotz all dieser Enttäuschungen hatte sie mich an jenem Morgen in der Einfahrt eigenartig angeschaut, nachdem wir uns geküsst
hatten. Hatte ich in ihrem Blick tatsächlich so etwas wie Sehnsucht,
ja, Begehren gesehen? Oder hatte ich es mir nur eingebildet?
    Als ich zum Fenster blickte, wusste ich plötzlich, wie die Antwort
auf diese Frage lautete: Ich hatte es mir nicht eingebildet. Fast zufällig hatte ich den Schlüssel zum

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