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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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haarlose Brust seines Sohnes. »Peinliche Angewohnheit.« Mahtab mag Camerons extravagante Art, sich zu kleiden und zu pflegen. Eingedenk der Kämpfe, die sie mit ihrer Mutter führte, bis sie sich endlich rasieren durfte, ist für sie Behaartheit das erste Anzeichen von »zu viel Iran«. Ich hab viel recherchiert, Khanom Omidi, und ich glaube inzwischen, dass Iraner ein Verhältnis zur Körperbehaarung haben, das einzigartig ist und ehrlich gesagt ziemlich widersinnig. Was soll die ganze Aufregung?
    Das Haus der Aryanpurs ist ehrwürdig und pompös zugleich. An den Wänden hängen etliche runde Holztafeln mit islamischer Kalligrafie in der wunderschönen Nastaliq-Schrift, neben bildhaften Szenen von Nezami und Ferdowsi. In den Regalen stehen Koranausgaben respektvoll von anderen Büchern getrennt. Der Reichtum der Familie trieft aus jeder Ecke. Im Esszimmer bedeckt ein dickes weinrot-golden gemustertes Tischtuch einen Kirschholztisch, an dem zwölf Personen Platz finden könnten. Viel zu viele Gegenstände sind aus massivem Gold.
    »Ihr Vorname ist Mahtab, ja?«, fragt Mrs Aryanpur. Camerons Mutter ist die lebende Verkörperung ihrer Umgebung. Sie ist von Kopf bis Fuß mit Stoff bedeckt, trägt aber eine dicke Schicht Make-up, und ihre langen Fingernägel sind rot lackiert. Obwohl sie nicht der modischen Angewohnheit frönt, einige Zentimeter Haar sichtbar zu lassen, verrät eine hervorlugende Strähne Mahtab, dass ihr Haar den für Los Angeles typischen Orangeton hat – wie bei den protzigen kalifornischen Persern, die wir von Fotos kennen.
    »Ja. Aber jetzt nenn ich mich schlicht May, das ist einfacher«, sagt Mahtab.
    Mr Aryanpur stößt einen tiefen Seufzer aus, der sich anscheinend in seinem Innern aufgestaut hat. »Das ist schade. Sie sollten Ihren persischen Namen nicht aufgeben. Er bedeutet ›Mondlicht‹, wissen Sie.«
    »Ja, ich weiß.« Sie registriert, dass auch Mr Aryanpur schon Bekanntschaft mit Haarfärbemitteln gemacht hat. Sein unwahrscheinlich schwarzer Schnurrbart bildet einen krassen Gegensatz zu dem grau melierten Haupthaar.
    »Sehr hübsch«, murmelt er und schlendert weg von der Tür.
    Als sie sich an den Esstisch setzen, herrscht diese typische Unsicherheit, die den Verlauf des Abends irgendwie steif und förmlich macht. Ich hab das selbst in den Videoaufnahmen gesehen, die Babas Cousins aus Kalifornien uns schicken – diese Mahlzeiten sind eine bizarre, unwirkliche Mischung aus unseren und denen, die man im amerikanischen Fernsehen sieht. Die Aryanpurs befinden sich wie Maman und überhaupt jede Einwandererfamilie auf der ganzen Welt in einem Schwebezustand, sind gefangen zwischen zwei völlig unterschiedlichen Regelwerken aus Sitten und Gebräuchen. Weil sie nicht wissen, ob sie um sechs oder um zehn mit dem Abendessen anfangen sollen, kauen sie Nüsse und Trockenfrüchte, bis sie beinahe satt sind, und beginnen dann um neun. Unsicher, ob sie sich an die iranische Sitte halten sollen, das gesamte Essen auf einmal auf den Tisch zu stellen, oder an die amerikanische, es in verschiedene Gänge aufzuteilen, servieren sie grünen Salat als Vorspeise, den sie hastig und pflichtschuldig verzehren – eine unfreiwillige Hommage an ihr neues Land –, ehe sie die Fleischgänge auffahren, die jeweils in einer Kombination aus mindestens fünf Gewürzen gekocht wurden. Aber die Konversation läuft immer leicht und locker. Sie beginnen mit Dichtung und Literatur, sie rezitieren und widersprechen und korrigieren, schwelgen in Erinnerungen an Isfahan, Persepolis und das Kaspische Meer, und dann, Stunden später, fangen sie endlich an, einander grundlegende Fragen zu stellen. Sie sind ganz ähnlich wie die Familien, die für eine Saison in die Villen am Meer kommen, vergleichbar mit meinen eigenen Eltern, was Bildung und Interessen angeht. Aber in Amerika können sie sich ganz nach Belieben jedwedem Zeitvertreib und Gespräch hingeben.
    Von da an verbringen die Aryanpurs den größten Teil des Abends damit, Informationen über Mahtabs Eltern, Herkunft und Ausbildung zu sammeln.
    »Sie sind also in Ihrem dritten Jahr in Harvard«, sagt Mr Aryanpur, während er sich mit dem amerikanischen Besteck abmüht. Er wird sichtlich ärgerlich, als Körner von buttrigem Basmatireis durch die Gabelzinken rutschen und wieder auf seinem Teller landen. Als er meint, dass Mahtab nicht hinschaut, nimmt er seinen Dessertlöffel. Der Anblick, wie er Reis auf diesen kleinen Löffel häuft und mit zittriger Hand zum Mund

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